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Das Fremde Mädchen

Das Fremde Mädchen

Titel: Das Fremde Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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bereit? Soll ich die Lampe löschen?«
    Haluin hatte keine klare Erinnerung an die Tochter des Hauses, kein Bild war ihm nach dem kurzen Anblick geblieben, nur ein dunkler Umriß im Kerzenschein. Doch Cadfael hatte ein sehr klares Bild vor seinem inneren Auge, wie sie im rötlichen Schein der Fackel vor ihnen stand. Es war ein Bild, das noch klarer wurde, als die Lampe gelöscht war und er neben seinem schlafenden Gefährten in der Dunkelheit lag. Und über die Erinnerung hinaus hatte er das starke, beunruhigende Gefühl, daß dieses Bild eine besondere Bedeutung hatte, auch wenn er es im Augenblick noch nicht ganz zu fassen vermochte. Es war ihm im Augenblick noch ein Geheimnis. In der Dunkelheit grübelnd, rief er sich ihr Gesicht vor Augen, ihre Bewegungen, als sie ins Licht getreten war, doch er fand nichts, was ihm hätte etwas sagen können, keine Ähnlichkeit mit einer Frau, die er bisher gesehen hatte, abgesehen davon, daß alle Frauen Schwestern sind. Dennoch blieb das unbestimmte Gefühl, sie sei ihm vertraut und nicht völlig unbekannt.
    Ein groß gewachsenes Mädchen, oder vielleicht doch nicht so groß, sondern eher gertenschlank und deshalb größer wirkend, das im Begriff war, zur Frau zu werden. Sie hielt sich aufrecht und anmutig, zeigte aber noch das Zögern, die Verletzlichkeit und Impulsivität eines Kindes, eines Lammes oder Rehkitzes, das bei jedem Geräusch und jeder Bewegung erschrak. Denn erschrocken war sie davongesprungen, hatte aber dennoch die Tür leise geschlossen, um nicht ihrerseits die Gäste aufzuschrecken. Ihr Gesicht – wirklich schön war sie eigentlich nicht, auch wenn Jugend und Unschuld und Anmut immer schön anzusehen sind. Ein ovales Gesicht hatte sie gehabt, von der breiten Stirn und den weit auseinanderliegenden Augen nach unten, zum runden Kinn hin zulaufend. Ihr Kopf war unbedeckt gewesen, das braune Haar hinter dem Kopf zu einem Zopf geflochten, was die hohe weiße Stirn und die großen Augen unter den ebenmäßigen dunklen Augenbrauen und den dunklen Wimpern nur noch deutlicher hervortreten ließ. Die Augen schienen die Hälfte des Gesichts auszumachen. Es war kein reines Braun, dachte Cadfael, denn obwohl dunkel, waren ihre Augen klar und tief und leuchtend erschienen. Haselnußbraun mit einer Spur Grün, so klar und tief, daß man glaubte, man könnte hineintauchen und ertrinken.
    Offene und verletzliche Augen ohne Angst. Ein junges, wildes Tier im Wald, das noch nie gejagt oder verletzt worden war, mochte diesen Ausdruck in den Augen haben. Auch an die klaren, feinen Linien ihrer Wangenknochen erinnerte Cadfael sich, elegant und zugleich kräftig und nach den Augen ihr wichtigstes Merkmal.
    Was an diesem Gesicht, das er so deutlich vor sich sah, sollte ihn beunruhigen und verfolgen wie die flüchtige Erinnerung an eine Frau, die er einst gekannt hatte? Nach und nach erinnerte er sich an alle Frauen, an alle Gefährtinnen seines langen, unruhigen Lebens, und grübelte, ob die Gesichtszüge oder Gesten einer dieser Frauen eine Saite zum Schwingen brachten und ihm etwas verrieten. Doch es paßte nichts zusammen, kein Echo kam. Cenreds Schwester blieb einzigartig und abseits, und vielleicht verfolgte sie ihn nur, weil sie so plötzlich erschienen und wieder verschwunden war.
    Vermutlich würde er sie nie wiedersehen.
    Dennoch war das letzte Bild, das er bewußt sah, bevor er einschlief, ihr erschrockenes Gesicht.
    Am Morgen hatte die Luft ihre frostige Schärfe verloren; der größte Teil des Neuschnees war über Nacht getaut und verschwunden. Nur hier und dort, am Fuße der Mauern und an den Stämmen der Bäume, waren noch einige vereinzelte Spuren zu sehen. Cadfael blickte von der Hallentür hinaus und wünschte fast, der Schnee hätte sich gehalten und Haluin daran gehindert, sich sofort wieder auf den Weg zu machen.
    Doch es stellte sich heraus, daß er sich nicht zu sorgen brauchte, denn sobald die Menschen im Haus aufgestanden waren und mit ihren Alltagsverrichtungen begannen, kam Cenreds Verwalter zu ihnen und bat sie, nach dem Frühstück in die Kammer seines Herrn zu kommen, weil dieser etwas von ihnen erbitten wolle.
    Cenred war allein, als sie sein Zimmer betraten. Haluins Krücken hallten hohl auf den Dielenbrettern. Der Raum wurde von zwei tiefen, schmalen Fenstern, in die gepolsterte Sitze eingepaßt waren, erhellt. Möbliert war er mit schönen Sitzbänken an einer Wand, einem geschnitzten Tisch und einem königlichen Stuhl, den der Hausherr benutzte.

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