Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
gut besucht. An diesem Abend fühlt sich das Wasser anders an; Ghostboy kann nicht entscheiden, ob es an der Temperatur liegt, das Wasser ein wenig wärmer, ein wenig kälter ist als gewöhnlich. Und nicht nur das Wasser, auch Ghostboy selbst ist anders. Dem geschuppten Jungen gegenüber hat er oft geprahlt, dass ihm das Sterben so leichtfalle, wie etwas zu essen oder zu trinken. Die Kunst sei es bloß, das Verlangen nach Luft loszulassen. Doch an diesem Abend will es nicht gelingen. Ghostboy schluckt Wasser; in der Lunge brennt und sticht es, im Nervennetz surrt und summt es.
Nicht immer, doch oft genug ist es so: Wenn Ghostboy sich vom Rand des Tanks abstößt und untergeht, öffnen sich Schleusen in seinem Inneren, und die Welt strömt in ihn hinein. Das Wasser leitet Gefühle und Gedanken, Bilder oder Worte, und Ghostboy weiß, was ihm unmöglich ist zu wissen. Dass Corwin hinter der Bühne auf und ab läuft und den viel zu langen Minuten, wenn Ghostboy tropfend nass auf dem Boden liegt, voller Sorge entgegenblickt. Dass Martha versucht, so selten wie möglich zu blinzeln, weil sie glaubt, dass sie durch das Senken ihrer Lider jenen Bruchteil Dunkelheit freigibt, in dem Ghostboy für immer zu verschwinden droht.
An diesem Abend ist es ein weiterer Gedanke, eine Empfindung, die mit ihm im Tank treibt; ab und an meint er, sie mit den Fingerspitzen berühren zu können, doch bekommt er sie nicht recht zu fassen. Wenn er nur ein klein wenig weiter, wenn er nur ein klein wenig länger – doch da drängt das Wasser schon von allen Seiten auf ihn ein, schließen sich die Vorhänge im Inneren seiner Augen unaufhaltsam. Er strampelt mit den Armen und Beinen. Vergeblich. Kurz bevor er das Bewusstsein verliert, erfasst er einen verwaschenen Fleck in Marthas Nähe. Nein, kein Fleck, denn ein Fleck ist da, ist vorhanden. Was Ghostboy sieht, ist etwas, das fehlt. Davon muss er Martha erzählen, denkt er, bevor er stirbt, zum dreiundzwanzigsten Mal in diesem Monat.
Das Publikum tut, was es immer tut: raunt, tuschelt, flüstert besorgt, fragt sich: »Soll jemand helfen?«, und: »Gehört das dazu?«
Merwin und Corwin tun, was sie immer tun: Sie schauen einander wissend an und bereiten sich auf das große Finale vor. Die Männer, die den Tank auf die Bühne geschoben haben, lehnen gelangweilt am Rand. Keiner von ihnen bemerkt, was Martha bereits vor Minuten aufgefallen ist: Ghostboys Bewegungen sind ungewöhnlich abgehackt. Sie beugt sich vor, als ihr Blick an jenem Zuschauer hängen bleibt, der ihr bereits in den vorangegangenen Vorstellungen aufgefallen ist. Wie immer sitzt er genau in der Mitte der Gruppe der Anzug tragenden Männer. Er bewegt sich nicht, spricht mit keinem der Männer zu seiner Rechten, mit keinem der Männer zu seiner Linken. Auch wenn er völlig untätig wirkt, in sich ruhend und unbeteiligt an den Ereignissen im Zelt, ist Martha sicher, dass das Gegenteil der Fall ist: Was immer in dem Tank und in Ghostboy vor sich geht, der Zuschauer löst es aus. Sie starrt seinen breiten Rücken an, den grauen Anzugstoff, versucht, ihn zu ergründen, und vergisst ihre Umgebung und vergisst Ghostboy.
Unbemerkt schlüpft Ghostboy aus seinem Körper, um sich in der wässrigen Weite des Tanks zu verlieren. Erst als die Männer seinen reglosen Körper aus dem Wasser ziehen, schnellt Marthas Blick zurück auf die Bühne und zu Ghostboy. In den Reihen vor ihr sind die Besucher aufgesprungen; sie recken die Hälse, um Ghostboy besser sehen zu können. Als hätte sie eine große Unachtsamkeit begangen, fährt Martha schuldbewusst zusammen. Sie streicht über ihren Rock, verflicht ihre Hände, versichert sich selbst: Er wird jeden Moment die Augen öffnen.
Eine Minute verstreicht, dann eine weitere. Corwins Lächeln liegt nicht mehr leicht auf seinen Lippen, sondern scheint von Mundwinkel zu Mundwinkel gespannt. Er geht neben Ghostboy in die Knie, klopft ihm sacht auf die Schulter, als sei Ghostboy eingenickt und müsse nur kurz ans Leben erinnert werden.
Ghostboy rührt sich nicht.
Martha presst die Hand auf den Bauch, versucht, sich aufrecht und zusammenzuhalten. Weitere Minuten vergehen. Minuten, die Martha nicht wie Minuten, Sekunden oder Stunden erscheinen. Am Ende der Zeit, die sich nicht messen lässt, schlägt Ghostboy die Augen auf.
Martha fällt auf ihren Sitz zurück. Noch Stunden später werden ihr die Zähne schmerzen, so fest hat Martha sie aufeinandergebissen. Noch Stunden später werden ihr die Muskeln
Weitere Kostenlose Bücher