Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
und begonnen zu packen.
Als es an ihrer Tür klopft, zuckt sie schuldbewusst zusammen. Weder mit Corwin noch mit Merwin hat sie über eine mögliche Abreise gesprochen. Wie sollte sie ihnen erklären, dass sie nicht länger bleiben kann, weil sie des Wartens müde geworden ist?
Sie breitet ihre Bettdecke über dem Koffer aus, bevor sie zur Tür geht und öffnet. Auf den Stufen steht niemand. Gerade will sie sich wieder umdrehen, als sie Ghostboy zwischen den Bäumen entdeckt. Gleich nachdem er geklopft hat, muss er einige Schritte zurückgesprungen sein, nun steht er, unablässig vor- und zurückwippend, in den Schatten. Wie immer scheint er sich zu ducken, vor einem Unglück, einer Gefahr, die unmittelbar über seinem Kopf hängt.
Nun hat Martha sich vorgenommen, bei ihrem nächsten Treffen nicht als Erstes zu sprechen, doch als sie ihn sieht, die hochgezogenen Schultern, den gebeugten Rücken, die Hände in den Taschen vergraben, da hört sie sich fragen: »Willst du reinkommen?«
Ghostboy nickt und bewegt sich nicht. Er erinnert Martha an eine ihrer Katzen, das scheuste unter ihren Tieren. Es betrat oder verließ einen Raum nur dann, wenn man ihm den Rücken zugewandt hatte und es sich unbeobachtet wusste. Also dreht Martha sich um, lässt die Tür weit offen stehen und setzt sich an ihren Tisch, wo sie vorgibt, sich in eine Zeitung zu vertiefen. Nach einigen Sekunden taucht Ghostboy im Türrahmen auf. Er schaut sich um, sein Blick bleibt an Marthas Bett hängen und dem Kofferumriss unter der Decke. Zögernd setzt er sich auf einen wackligen Stuhl und ruckelt hin und her.
Martha schweigt.
Ghostboy schweigt.
Bis er sich schließlich räuspert. »Kannst du die Zukunft sehen?«, fragt er.
»Manchmal.«
»Und kannst du meine sehen?«
»Das kommt darauf an. Ich muss es ausprobieren«, sagt Martha. »Gib mir deine Hände«, sagt sie und streckt die eigenen aus.
Ghostboy rührt sich nicht. Sie versucht, ihm in die Augen zu schauen, aber er weicht ihr aus.
»Ohne Hände wird es schwer«, sagt Martha. »Ich brauche einen Zugang, einen Kontakt. Am besten sind deine Hände. Aber ich kann auch deine Stirn anfassen.«
Ghostboy betrachtet seine Hände, als seien sie ihm peinlich. Dann schiebt er sie mit einem Ruck über die Tischplatte. Und für den Bruchteil einer Sekunde sträubt sich etwas in Martha. Sie drängt es zurück, atmet tief ein, schließt die Augen und nimmt Ghostboys Hände. Sie sind kalt, damit hat sie gerechnet, ihre Beschaffenheit aber trifft sie unvorbereitet: Sie fühlen sich so wenig lebendig an wie die Tischplatte, wie die Zeitung. Einen Moment ist sie versucht, ihn loszulassen, dann drückt sie fester zu.
Es wird ein wenig stiller.
Es wird ein wenig dunkler.
Und dann beginnt es; in dem unwahrscheinlich schmalen Raum zwischen ihren Fingern, dort, wo die Entfernung zwischen zwei Körpern gegen nichts strebt, nimmt es seinen Anfang. Es entzündet sich und geht auf sie beide über. Martha spürt ein Prickeln in den Fingerkuppen. Heißkalte, winzige Explosionen, die sich unter ihrer Haut entzünden. Selbst, wenn sie wollte, könnte sie die Hände nicht mehr aus Ghostboys lösen. Auch Ghostboy scheint etwas zu spüren. Er atmet heftig, sein linkes Bein zittert. Und er scheut zurück, will aufstehen, aber ihre Finger sind verschränkt, wie aneinandergeschmiedet.
»Was …«, setzt er an und verstummt, als es ihnen wie ein Blitz in die Knochen fährt.
Um sie herum fällt Schnee, um sie herum rauscht der Wald, der Wind peitscht das Meer. Bilder überlagern sich wie bunte Gläser, und Martha und Ghostboy sind überall: auf einem Schiff, auf einer Insel, in einer Stadt, die zerfällt und sich neu zusammensetzt. Es ist dunkel, als sie in der Brandung stehen und der Mond zum Greifen nah scheint. Es ist gleißend hell, als sie durch die endlosen Gänge einer Fabrik rennen und irgendwo ein Wolf heult. Und durch den Wind und durch das Schneegewirbel kann Martha die Umrisse eines Fremden ausmachen. Ohne Eile, doch mit großer Geschwindigkeit kommt er näher. Lauf!, will sie Ghostboy zurufen. Renn! Schnell! Stattdessen nimmt sie seine Hand, läuft los und zieht ihn mit sich. Genau in der Mitte ihres Brustkorbs entfaltet sich ein Gefühl, sprießt und wächst, bis es in jeden Winkel, bis an jede Grenze ihres Körpers vorgedrungen ist. Es ist keine Angst, keine Furcht, keine Trauer, es kommt von einem Ort jenseits der Namen, und als es sie durchwirkt, als es sich mit ihr verwoben hat, da ist Martha nicht
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