Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
selben Augenblick, da der Dunkelhaarige einen Schritt zurücktritt. Er öffnet den Mund, wie um etwas zu sagen, stattdessen schiebt er die Unterlippe ein Stück nach links und grinst.
Eiligen Schrittes verlassen Ghostboy und Martha das Gasthaus. Draußen umfängt sie die weiße Nacht, kommt die Kälte über sie wie ein Schauer. Als Martha stehen bleiben will, um sich ihre Handschuhe überzuziehen, zerrt Ghostboy sie weiter. Sie laufen durch das Schneegestöber so schnell sie können zurück zum Zirkus. Auch als sich die Tür des Gasthauses hinter ihnen öffnet, drehen sie sich nicht um.
*
Unter all ihren Schwächen, weiß Martha, ist die Ungeduld die größte. Es beginnt mit einem brodelnden Kribbeln, das sie in den Armen und Beinen und besonders in den Kniekehlen spürt. Die Unruhe schlägt wie ein zweites, nervös pulsierendes Herz in ihrer Brust, und Martha wird zur zappelnden Marionette. Manchmal hilft es, flach auf dem Boden zu liegen. Manchmal hilft es, auf und ab zu laufen.
Es ist die Stadt, die sie ungeduldig macht. Pern mit seinem modrigen Geruch und seinen engen Gassen. In ihren Tiefen scheint etwas zu verfaulen, zu verrotten, ein Geheimnis, das sich Martha nicht erschließen will, weil sie zu wenig weiß über Pern. Will sie es verstehen, vermutet sie, muss sie zunächst den Fabrikanten verstehen.
Während der Vorstellungen und solange Ghostboy die Bühne noch nicht betreten hat, studiert sie ihn genau, lauscht in die Stille, die ihn umgibt, doch diese bleibt weiter undurchdringlich. Vor einiger Zeit hat Ghostboy ihr erzählt, dass die Stille im Tank unter Wasser eine andere sei als die an der Luft, sie sei drückend, voll und laut, ein langgezogenes dumpfes Schschsch . Es ist diese Stille, die Martha hört, wenn sie den Fabrikanten ansieht. Und weil sie sicher ist, sie auch an keinem der folgenden Tage durchbrechen zu können, einen Gedanken, eine Information dahinter zu erspüren, fasst sie einen Plan: Sie braucht einen Kontakt. Sie muss den Fabrikanten berühren.
Während der folgenden Abende versucht sie, ihn nach der Vorstellung abzupassen. Sie späht über Hüte und aufgetürmte Frisuren hinweg, folgt ihm zwischen umherspringenden Kindern und Händchen haltenden Paaren hindurch. Jedes Mal ist es dasselbe: Die Männer umringen ihn schützend, machen es Martha unmöglich, näher als bis auf eine Armlänge an ihn heranzukommen. Erst am dritten Abend bietet sich Martha eine Gelegenheit. Anders als gewöhnlich sitzt der Fabrikant nicht in der Mitte seiner Reihe, sondern an ihrem äußeren Ende. Sie muss nur während der Vorstellung die Treppe hinuntergehen, um ihn beiläufig streifen zu können.
Martha hält still, während Ghostboy ertrinkt, hält still, während er aus dem Tank gezogen wird, hält still, während er stillhält. Erst als die Finger seiner rechten Hand zucken, steht sie auf. Während sie sich dem Fabrikanten nähert, der Abstand zwischen ihnen sich weiter verringert, beginnt ihre ihm zugewandte Körperhälfte verrücktzuspielen: Die rechte Wange prickelt, der rechte Arm wird schwer und taub. Auch, als sie ihre Finger immer wieder schließt und öffnet, bleiben sie kalt und gefühllos.
Und dann ist sie bei ihm. Beiläufig streift sie mit der tauben Hand kaum merklich die Schulter des Fremden.
Martha schwebt in einem schlecht beleuchteten Raum; ein, zwei Sekunden verstreichen, bevor sie das Innere der Gaststätte wiedererkennt. Sie blickt auf sieben schwarze Hüte hinab, blasse Hände, die auf der Tischplatte liegen. Zunächst schweigen die Männer, dann beginnt einer von ihnen zu sprechen. Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen und ihn nicht an der Stimme erkennen kann, da sie ihn noch nie hat sprechen hören, ist Martha sicher, dass es der Fabrikant ist. Er redet nicht besonders leise und der Abstand zu ihm ist nicht groß, trotzdem kann sie nicht mehr als ein Murmeln ausmachen.
»Das haben wir ihnen gesagt«, antwortet der Dunkelhaarige, und ihn versteht sie klar und deutlich. »Sie behaupten, sie können nicht reisen. Wegen des Schnees.«
Die anderen fünf nicken.
Murmeln des Fabrikanten. Noch immer ist es Martha unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu verstehen.
»Nein, es muss ein Trick sein«, entgegnet der Dunkelhaarige. »Irgendetwas mit dem Tank. Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber sicher liegt es an dem Tank.«
Murmeln des Fabrikanten.
»Ja, aber, wenn … Was soll es denn anderes als ein Trick sein?«
Der Fabrikant spricht besonders lange auf die Männer ein;
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