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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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die Lippen schmal, eine Falte zwischen den Brauen scheint Ghostboy stets in großer Sorge, auf der Suche nach der Lösung eines unlösbaren Problems. Zwar ist er im Zirkus dafür bekannt, sich vor nichts und niemandem zu fürchten, tatsächlich aber verfolgen ihn seine nächtlichen Schrecken bis weit in den Tag. In seinem Kopf dunkelt es auch in den hellen Stunden. Und wie immer, wenn Martha Ghostboy länger ansieht, dann spürt sie ein Ziehen, vielleicht im Magen, vielleicht im Brustbein, und vielleicht ist es nicht einmal ein Ziehen, sondern ein Druck, etwas, das ihr von innen her den Rippenbogen aufbiegt, ihr Herz freilegt. Es lässt sie wünschen, dass sie Ghostboy zusammenfalten und an einem sicheren Ort verwahren könnte.
    »Gut«, sagt sie. »Gehen wir.«
    Ein modriger Geruch scheint in den Straßen zu hängen, den selbst der frisch fallende Schnee nicht überdecken kann.
    Martha und Ghostboy entscheiden sich für eine Gaststätte gleich am Stadtrand. Kaum, dass sie über die Schwelle treten, weiß Martha, dass sie sich mehr Mühe hätte geben, Ghostboy entschiedener und mit mehr Nachdruck hätte ausreden müssen, das Zirkusgelände zu verlassen. In dem Gasthaus sitzen nur Männer; sie müssen ihre Gespräche entweder gleich bei Marthas und Ghostboys Eintreten beendet oder gar nicht erst miteinander gesprochen haben. Stumm beobachten sie, wie Ghostboy und Martha sich ihren Weg zwischen ihnen hindurch und bis zu einem Ecktisch bahnen.
    Niemand kommt an ihren Tisch. Ghostboy will aufstehen, um ihre Getränke an der Theke zu holen, doch Martha hält ihn zurück. »Lass mich lieber gehen«, sagt sie.
    Unerklärlich spät und erst als Martha die Theke erreicht, bemerkt sie die Männer aus der Vorstellung. Wie aufgereiht sitzen sie nebeneinander, Schulter an Schulter. Der Siebte fehlt. Während Martha ihre Bestellung aufgibt und wartet, wirft sie den Männern verstohlene Seitenblicke zu. Auch aus der Nähe betrachtet unterscheiden sich fünf der sechs kaum voneinander – nicht nur, weil sie gleich gekleidet sind, auch ihre Gesichter ähneln sich. Die großen Nasen und schmalen Lippen lassen sie wie Brüder aussehen; ihr Haar ist von der gleichen schmutzblonden Farbe, ihre Augen von dem gleichen trüben Grau. Einzig der Sechste sticht heraus. Unter seinem Hut lugt pechschwarzes, glänzendes Haar hervor. Der Ausdruck auf seinem Gesicht scheint eine Spur feindseliger, seine Augen sind wacher, verschlagener.
    Als Martha zurück zum Tisch läuft, meint sie, das Rascheln der Hemdkragen hören zu können und wie steifer Stoff über die Haut reibt, als die Männer gleichzeitig die Köpfe nach ihr umdrehen.
    »Lass uns bald wieder gehen«, sagt sie zu Ghostboy und stellt die Gläser auf den Tisch. Sie trinken in schnellen Zügen, sprechen wenig und gedämpft. Auch Ghostboy scheint nun nicht mehr daran gelegen, den Abend fernab des Zirkus zu verbringen.
    Als Ghostboy und Martha wenig später ihre Stühle zurücksetzen und aufstehen, gerät auch in den übrigen Raum Bewegung. Die sechs Männer an der Theke erheben sich und stellen sich zwischen den Tischen so auf, dass Martha und Ghostboy sich an ihnen vorbeidrängen müssten, um nach draußen zu gelangen.
    »Wie lange bleibt ihr noch?«, fragt der Dunkelhaarige.
    »Sobald es aufhört zu schneien, fahren wir«, antwortet Martha und stellt sich zwischen Ghostboy und die Männer.
    »Es wird den Winter durchschneien«, behauptet der Dunkelhaarige.
    »Es hört nicht mehr auf«, fügt ein zweiter hinzu.
    Martha verschränkt die Arme.
    »Wir fahren, sobald wir können«, sagt Ghostboy.
    Die Männer drehen die Köpfe, als hätten sie ihn erst jetzt bemerkt.
    »Du bist doch der, der nicht stirbt«, sagt der Dunkelhaarige.
    Ghostboy nickt nicht und schüttelt nicht den Kopf.
    »Und was ist der Trick, wie funktioniert das?«
    Noch immer antwortet Ghostboy nicht.
    »Wir müssen los«, sagt Martha, doch jetzt schiebt sich der Dunkelhaarige zwischen sie und die Tür.
    »Was kannst du?«, fragt er.
    »Was?«, fragt Martha zurück.
    »Ihr könnt alle irgendwas. Dein Freund hier, der stirbt nicht. Einer wird grün, jeder von euch kann etwas. Was kannst du?«
    Martha schüttelt den Kopf.
    »Nichts?«
    Martha nickt. Und wartet. Die übrigen Männer an den Tischen haben sich ihnen zugewandt, starren unverhohlen und erwartungsvoll. Keiner unter ihnen, versteht Martha, wird ihnen zu Hilfe eilen, sollten die Männer sie angreifen. Martha spannt ihre Schultern an, tastet nach Ghostboys Hand, im

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