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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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sich selbst beschäftigt, als dass sie Ghostboy und Martha bemerken würden, und mit einem Mal scheint es Martha wichtig, dass dies auch so bleibt. Ein starker Widerwillen erfasst sie, erstreckt sich nicht nur auf die drei Männer, sondern auch auf die schmucklosen Häuser, die schlecht gepflasterten Straßen, den Himmel, der wie eine steinerne Decke schwer über ihren Köpfen hängt.
    »Lass uns gehen«, sagt sie zu Ghostboy und hakt sich bei ihm unter.
    *
    Martha sitzt Ghostboy gegenüber und schaut nicht in ihre Karten. Sie denkt über Pern nach, die letzte Reisestation, zumindest für dieses Jahr. Sie denkt auch an das folgende Jahr und daran, dass sie mit Ghostboy wird sprechen müssen; kann er sich vorstellen, den Zirkus jemals zu verlassen, kann er sich vorstellen, den Zirkus mit ihr zu verlassen?
    In ihre Gedanken vertieft, bemerkt Martha nicht, wie Ghostboy seine Karte ablegt und sie erwartungsvoll ansieht. Erst als es an der Tür klopft, hebt sie den Kopf. Merwin und Corwin betreten den Wagen und streichen sich den Schnee von ihren Mänteln und Hüten. Während Ghostboy in der kleinen Küche Tee aufsetzt, räumt Martha die Karten zusammen. Sie weiß, dass die Brüder am Vormittag in Pern gewesen sind, um in einer Gaststätte einzukehren, wie sie es an jedem ersten Abend in einer neuen Stadt tun.
    »Und?«, fragt Martha.
    Corwin winkt ab, Merwin wiegt den Kopf.
    »Vielleicht ist es doch besser«, sagt Corwin, nachdem Ghostboy sich zu ihnen gesetzt und Tassen mit heißem Tee auf den Tisch gestellt hat, »wenn wir nur eine Woche bleiben.«
    »Ist etwas passiert?«, fragt Martha.
    Ratloses Kopfschütteln. Nein, erklären die Brüder, es sei nichts Bestimmtes vorgefallen. Niemand habe eine Drohung ausgesprochen oder ihnen verboten, in Pern zu bleiben. Niemand habe sie angegriffen. Vielleicht sei es bloß die Art gewesen, auf die man sie angestarrt habe, die geflüsterten Worte und unbestimmten Gesten.
    »Ich habe so ein Gefühl«, sagt Merwin.
    »Sie hatten wohl eine andere Art Zirkus erwartet«, erklärt Corwin.
    »Und wenn wir gleich wieder abreisen?«, fragt Martha.
    Ghostboy scheint der Vorschlag nicht nur voreilig, sondern schlicht übertrieben, die Brüder aber nicken.
    »Daran haben wir auch gedacht. Aber wir können erst aufbrechen, wenn der Schneefall nachlässt.«
    Es schneit seit Stunden, ununterbrochen und in dichten Flocken; das große Zelt ist bereits vollständig bedeckt. Obwohl Martha ein Schultertuch und Fäustlinge trägt, friert sie, seitdem sie in Pern sind. Auch der Tee kann ihren Körper nicht von innen her wärmen, vielmehr scheint es, als kühle ihr Körper den Tee, kaum dass sie ihn geschluckt hat. Obwohl sie in der Nacht vollständig bekleidet unter zwei Decken neben Ghostboy liegt, hält die Kälte sie bis weit nach Mitternacht wach.
    *
    Die Vorstellungen sind schlecht besucht, besonders unter der Woche, wenn die Zuschauer aus der umliegenden Gegend nicht anreisen. Die Familien bleiben aus und auch die jungen, verliebten Paare. Abends ist der Platz mit seinen Buden, seiner Zuckerwatte, seinem Riesenrad und seiner wahrsagenden Martha wenig belebt. Vor allem Ghostboys Auftritt erfreut sich keiner großen Beliebtheit. Seinem plötzlichen Erwachen folgt kein überraschter Applaus, sondern bloß ein verhaltenes Klatschen. In den ersten Vorstellungen halten die Mütter und Väter ihren Kindern die Ohren und Augen zu, in den folgenden kommen sie erst gar nicht mehr.
    Während einer der Abendvorstellungen bemerkt Martha eine Gruppe junger Männer, die ein paar Reihen vor ihr sitzen. Sie tragen dunkle Anzüge und Hüte, scheinen nicht nur zu formell für den Zirkus, sondern ganz Pern gekleidet. Nachdem Martha sie entdeckt hat, vergeht kein Abend, an dem sie nicht im Zirkus auftauchen. Das Programm verfolgen sie stumm: Sie schrecken nicht zusammen, sie lachen nicht. Nur hin und wieder flüstern sie miteinander. Jeden Abend sind es dieselben sieben Männer. Während sechs von ihnen sich kaum unterscheiden, sticht einer hervor. Genau in der Mitte sitzend, ist er einen guten Kopf größer als die übrigen, und es wirkt auf Martha, als hätten sich die anderen Männer um ihn herum angeordnet. Von Vorstellung zu Vorstellung wächst Marthas Wunsch, nicht nur seinen Hut und seinen Rücken, sondern auch sein Gesicht sehen zu können. Gleichzeitig aber nimmt das Gefühl zu, dass sie es vermeiden sollte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    *
    Es ist ein Samstag und die Vorstellung verhältnismäßig

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