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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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sie hören, an seinen flatternden Lidern sehen, dass er noch nicht schläft. Es ist bereits weit nach Mitternacht und für sie an der Zeit, wieder in ihre Kabine zurückzukehren. Während des Lesens aber hat sich eine bleierne Schwere in ihren Körper gestohlen, sie fühlt sich matt und so erschöpft, wie sie es sonst nur aus Zeiten des Fiebers kennt. Jakob ist gewohnt, dass sie nach dem Lesen aufsteht und ohne ein Wort die Kabine verlässt. Er öffnet die Augen, wartet einen Moment ab; als sie keine Anstalten macht, aufzustehen, rutscht er zur Seite, gibt auf dem schmalen Bett genug Platz frei, damit sie genau nebeneinander passen.
    Milena starrt in die grelle Deckenbeleuchtung. Nun, da sie liegt, ist die Schwere ganz von ihr gewichen, sie fühlt sich leicht, beinahe schwebend und so, als habe sich ihr Geist bereits von ihrem Körper gelöst, um der Decke entgegenzustreben.
    Sie fürchtet, dass Jakobs schlafschwere Atmung, die kleinen Bewegungen, wenn er nach oben oder nach unten rutscht, sich von der linken auf die rechte Seite dreht und wieder zurück, sie die Nacht über wach halten werden. Tatsächlich ist sie nach wenigen Minuten eingeschlafen.
    *
    Nach der Landung und bereits in den frühen Morgenstunden ist Hektik über das Luftschiff hereingebrochen. Jetzt erst fällt Milena auf, wie ruhig es zuvor gewesen ist, wie gemächlich und leise. Für die Patientenübergabe ist ein rascher Ablauf vorgesehen. Obwohl Jakob mit Hilfe eines Stocks allein laufen könnte, hat man ihn in einen Rollstuhl gesetzt.
    »Was passiert jetzt?«, fragt er und dreht sich zu Milena um, die hinter ihm steht, die linke Hand auf einem der beiden Rollstuhlgriffe. In der anderen hält sie ein Klemmbrett mit den Namen der Patienten und Pfleger. Sie ist nicht nur für Jakobs Übergabe verantwortlich, sondern auch für die zwanzig weiterer Patienten. Die Übergabe wird direkt vor Ort und durch das Pflegepersonal abgewickelt; nur wenige fahren mit in das Zentralkrankenhaus, und Milena gehört nicht zu ihnen.
    Sie beugt sich über Jakob, der in seinem Rollstuhl plötzlich wieder wie ein Kranker aussieht, ein Patient.
    »Gleich wird dich ein Pfleger vom Zentralkrankenhaus abholen und dich zur Anschlussuntersuchung dorthin bringen«, sagt sie.
    »Und dann?«, fragt er.
    Über das Dann ist sie sich selbst nicht sicher, aber weil sie keine Zweifel und kein Zögern aufkommen lassen will, antwortet sie: »Dann wird entschieden, ob du noch einmal stationär aufgenommen oder gleich entlassen wirst.«
    Sie warten schweigend. Verabschiedet haben sie sich bereits in Jakobs Kabine. Milena hat ihm ihr Buch geschenkt und ihn gefragt, ob er den Zettel mit ihrem Namen, ihrer Nummer noch bei sich trägt. Unter ihren wachsamen Augen hat er den Zettel aus seiner Jackentasche genommen und ihn in das Buch gelegt. Seitdem gibt er es nicht aus den Händen, auch jetzt liegt es in seinem Schoß. Milena betrachtet den grün schimmernden Einband. Sie selbst bekam es von ihrer Mutter zum zehnten Geburtstag geschenkt. Sie las meist an den Abenden und bis tief in die Nacht darin, blätterte von Geschichte zu Geschichte; vor manchen fürchtete sie sich so sehr, dass sie das Buch stets zuklappte, bevor sie zu ihrem Ende vorgedrungen war.
    Während Milena auf das Buch hinabsieht und sich erinnert, bemerkt sie nicht den Mann, der sich ihnen nähert. Erst als er vor ihnen stehen bleibt, Jakobs Namen nennt und seine Patientennummer, schaut sie auf. Etwas in ihr sträubt sich. Nicht nur, weil ihre letzte gemeinsame Minute anbricht, sie Jakob aus den Händen geben und jemand anderem anvertrauen muss. Mit dem Mann ihr gegenüber stimmt etwas nicht; vielleicht ist es der Ausdruck auf seinem Gesicht, der sich weder als überrascht noch erwartungsvoll, gelangweilt oder traurig bezeichnen lässt. Es ist gar kein Ausdruck, erkennt sie, es ist die Abwesenheit jeglicher Gefühlsregung.
    Und für einen Augenblick spannt sich ihr Körper an, macht sich bereit für diese Möglichkeit: den Rollstuhl herumzureißen, loszurennen, Jakob vor sich herschiebend, fort von dem Pfleger.
    Aber wohin?
    Ihr Griff lockert sich, ihre Schultern sacken ein. Hinter ihnen steht bloß das Luftschiff, und es ist kein Ort, an den man zurückkehren könnte.
    Der Pfleger, der ihr in diesem Moment weniger wie ein tatsächlicher Mensch denn als ein katastrophales Ereignis erscheint, etwas, das ihnen beiden widerfährt, sagt etwas zu ihr. Sie nickt, ohne zu verstehen. Dann lösen sich ihre Finger ganz von den Griffen.

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