Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
zumindest höchst bedenklich. Die Mitarbeiter werden darum angehalten, sich mit folgenden Argumenten und Grundsätzen vertraut zu machen.
Ein Blick auf die Geschichte der letzten zweihundert Jahre sollte ausreichen, um die unbedingte Notwendigkeit der Preservationsstellen zu verdeutlichen. Die katastrophalen gesundheitlichen Folgen einer ignoranten und nachlässigen Spiritpolitik sind bekannt. 8 Hieraus ergibt sich:
I . Spiritographie ist nicht nur moralisch unbedenklich, sondern absolut notwendig, um das Fortbestehen der Menschheit zu sichern und den Erhalt der Lebensqualität zu sichern.
II . Ein Fragment ist kein Mensch.
III . Ein fragmentiertes Bewusstsein ist nicht mit einem menschlichen Bewusstsein zu vergleichen.
IV . Bei einem fragmentierten Bewusstsein handelt es sich um ein lose gebündeltes Konglomerat an Gedanken, Worten und den Resonanzen vergangener Emotionen.
V . Der Vorgang der Spiritographie ist kein destruktiver Vorgang, sondern ein stabilisierender, der darauf abzielt, die Bewusstseinsfragmente zu binden, stillzustellen und platzergonomisch zu verwalten.
VI . Als MitarbeiterIn von Ghostpreservations Inc. arbeiten Sie in einem verantwortungsvollen, wichtigen Beruf, der nicht nur die Gesundheit der Bevölkerung sichert, sondern auch die fachgerechte Verwaltung der Spiritmaterie garantiert.
Piet
Kurz nach Mitternacht bemerkt er das Flackern und schließt für einige Sekunden die Augen. Als er sie wieder öffnet, ist das Flackern noch immer zu sehen. Nicht heute Abend, denkt er. Im Laufe der Nacht wird noch eine umfangreiche Lieferung an Fragmenten erwartet, denn Ende des Quartals werden nicht nur die Container aus der Endstadt, sondern auch aus dem Rest des Landes geliefert. Wegen dieser zweiten, etwa dreihundert Container umfassenden Lieferung hat Piet diese Nacht schon vor über einem Monat mit einem schwarzen Kreuz in seinem Kalender markiert. Wann immer er in den letzten Wochen nach dem Zubettgehen keinen Schlaf fand, bleiche Gesichter von der Decke und auf ihn hinabzublicken schienen, war es das schwarze Kreuz, an das er dachte.
Der Abend, auf den er seit Wochen gewartet hat, ist endlich gekommen, und nun das. Sollte er das Flackern ignorieren, vorgeben, es nicht bemerkt zu haben? Er schaut von dem unruhigen Monitor zu Marvin und wieder zurück. Seitdem Piet in der Fabrik arbeitet, haben die Lampen erst acht Mal geflackert, und kein einziges Mal ist es falscher Alarm gewesen.
»Marvin«, sagt er und deutet mit einem missmutigen Nicken auf den Bildschirm.
Nachdem sie eine Weile die Monitore angestarrt haben, gehen sie hinunter in den Konservierungsraum, besehen sich das Fließband und den Auffangraum, um die gerade fertiggestellten, noch feucht glänzenden Spiritographien mit der Anzahl der leeren Container abzugleichen. Als Piet vor einigen Jahren seine erste Spiritographie sah, war es vor allem ihre Größe von gut zwei Metern, die ihn überraschte. Man hatte ihn wegen eines Notfalls gerufen. Etwas stimmte nicht mit der Konservierungsflüssigkeit, und die Spiritographie war unfertig aus dem Tank gekommen. Der Vorfall selbst ließ sich schnell beheben. Die beschädigte Spiritographie wanderte ins Archiv, und eine Spiritographin wurde gerufen, um die Bewusstseinsreste zu entfernen. Einige Stunden jedoch hingen sie noch im Tank, in der Konservierungsflüssigkeit klebende, fluoreszierende Punkte, die Piet an Glühwürmchen denken ließen.
»Schau nicht so genau hin. Zähl einfach«, rät Piet nun Marvin, auch wenn sich der Hinweis erübrigt. Ginge es nach Marvin, würde er weder genau noch ungefähr hinschauen, sondern überhaupt nicht.
Weil Piet einmal einen ganzen Konservierungsprozess miterlebt hat, weiß er, dass sich zunächst nichts auf dem dunklen Papier der Spiritographie erkennen lässt, sich nach einigen Minuten dunstige Umrisse allmählich abzeichnen, um im Verlauf der folgenden Stunde fest und eindeutig zu werden. Kaum jemand bekommt die fertigen Spiritographien zu Gesicht. Bei etlichen Fabrikunfällen aber hat Piet die aufgerissenen Augen, die weit geöffneten Münder gesehen. Er könnte nicht sagen, nicht festlegen, durch welchen dieser Vorfälle die Veränderung in ihm ausgelöst wurde, ob es überhaupt während eines einzelnen Vorfalls geschah oder ob es sich nicht vielmehr um eine graduell stattfindende Umwälzung handelte, die sich über die Monate vollzog, während sich die fahlen Gesichter in seinem Schädel festsetzten und mit ihnen die Fragen und mit ihnen die
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