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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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aufspringen, sich neben sie setzen und sie befragen könnte; er würde gern alles über sie wissen, von Anfang an: wo genau sie geboren wurde, wer ihre Eltern waren und ob sie Geschwister hatte und ob man von ihrem Haus aus das Meer sehen konnte. Wer war ihre erste Liebe, wer brach ihr das Herz, und wessen Herzen hat sie gebrochen?
    Als sie das nächste Mal aufsieht, deutet er in die Wolkendecke und spricht von den Gesichtern, die er darin sieht. Im gleichen Moment kommt er sich albern vor, doch statt ratlos die Achseln zu zucken oder zu lachen, legt sie das Buch beiseite und schaut ihn aufmerksam an.
    »Außer mir bemerkt sie niemand«, sagt sie. »Die meisten aus der Stadt können sie nicht sehen.«
    »Wen?«, fragt er vorsichtig.
    »Die Toten«, sagt sie. »An der Küste glaubt man, dass es die Toten sind, die im Firmament festhängen.«
    Unsicher, ob sie einen Scherz gemacht hat, verzieht Jakob den Mund.
    »Darüber kann man lachen, aber ich kann es sehen, und du siehst es auch.« Sie schaut auf ihre Armbanduhr und steht auf. Als sie an ihm vorbeigeht, streicht sie ihm kurz über die Schulter.
    *
    Als man sein Blut das nächste Mal untersucht, ist es nicht länger klar, sondern von sonderbarer Farbe, einem trüben Ocker, von dem ihm schlecht wird, auch wenn er versteht, dass der Farbton ein gutes Zeichen ist.
    Eine Ärztin, die ihm vage bekannt vorkommt, betritt den Raum und erklärt ihm, dass seine Werte gut aussähen, einer vollständigen Genesung nichts im Weg stehe.
    Sie lächelt.
    Er lächelt. Doch während er lächelt, entfaltet sich irgendwo in seinem Kopf, in seinem Magen ein ungutes Gefühl. Er behält es im Griff, während er der Ärztin die Hand schüttelt, den Raum verlässt und den Gang entlangschlurft; es entgleitet ihm erst, als er in seinem Bett liegt, die Decke über den Kopf gezogen, sich nach Dunkelheit sehnend. Dann stellt er sich die Fragen, die er hier niemandem stellen möchte, nicht einmal Milena, weil er sich vor den Antworten fürchtet. Was jetzt?, will er wissen. Wie weiter? Das Luftschiff hat die Farbe und das Leben zurück in seinen Körper gebracht, aber seine Zeit hier ist begrenzt, er wird in die Nachtstadt zurückkehren müssen, wo bereits die nächsten Kranken darauf warten, seinen Platz einzunehmen. Niemand weiß, was mit den Geheilten nach ihrer Rückkehr geschieht; Jakob vermutet aber, dass die Nacht und mit ihr der Nebel wieder in seinem Kopf aufziehen werden und er ein weiteres Mal seine Farben verliert, seine Sprache, seinen Namen und alles, was er weiß, über die Welt und über sich selbst.
    In dieser Nacht träumt er, dass er eine Treppe hinaufsteigt. Obwohl er bereits unendlich viele Stufen zurückgelegt hat, ist kein Ende in Sicht. Vor ihm läuft Milena. Er erkennt sie an der komplizierten Flechtfrisur, dem polierten Glanz ihres dunklen Haares. Wie weit müssen wir noch laufen?, fragt er.
    Weil sie weitergeht, als hätte sie ihn nicht gehört, wiederholt er ihren Namen. Da schüttelt sie knapp den Kopf. Sie laufen weiter, und er hofft, dass sie sich umdreht, und fürchtet es zugleich. Ein entscheidender Augenblick bricht an, etwas steht bevor, doch ehe es geschehen und Milena sich umdrehen kann oder sie das Ende der Stufen erreichen, wacht er auf.
    Milena
    Am frühen Abend stirbt eine Patientin. Die Lichttherapie ist nicht angeschlagen, niemand weiß, warum. In den letzten Tagen hat sie sich kaum noch bewegt, gesprochen hat sie nie. Trotzdem überrascht ihr Tod, verunsichert Milena und die anderen Schwestern wie eine unvorhergesehene, unvorhersehbare Katastrophe.
    Während Milena gemeinsam mit Phyllis das Bett abzieht, bewegt sie sich langsam, wie jemand, der gerade erst aufgewacht ist oder jeden Moment einzuschlafen droht. Die Luft im Raum scheint ihr stickig und zu heiß. Doch mehr noch als die Hitze und plötzliche Beengtheit des Zimmers macht ihr das Gefühl zu schaffen, ein Dritter befände sich mit ihnen im Raum. Während sie den Kopfkissenbezug aufknöpft, meint sie, jemand stünde dicht hinter ihr, striche über ihr hochgestecktes Haar und den Nacken. Sie muss an sich halten, um Phyllis nicht zu mehr Eile anzutreiben. Kaum, dass sie Bettzeug und Laken verstaut haben, flieht Milena hinaus auf den Flur. Dort lehnt sie sich gegen die Wand und schließt die Augen. Wenig später folgt ihr Phyllis nach draußen.
    »Man weiß, dass man den Tod nicht vergessen darf«, sagt sie, »und man vergisst ihn trotzdem.«
    Milena nickt, obwohl sie glaubt, nicht tatsächlich zu

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