Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
verstehen, wovon Phyllis spricht.
Nach dem Abendessen wartet Milena in der Schwesternküche auf Phyllis.
»Was hast du gemeint?«, fragt sie. »Als du gesagt hast, dass wir den Tod nicht vergessen dürfen und es trotzdem tun?«
Phyllis beginnt, Teller und Tassen fortzuräumen. Sie scheint nicht antworten zu wollen, und einen Moment lang glaubt Milena, sie werde abstreiten, die Worte je gesagt zu haben. Dann zuckt Phyllis die Achseln. »Ich meine bloß«, sagt sie, »dass wir hier sind, um zu helfen. Aber nichts davon macht einen Unterschied, nicht für die hier oben.«
Milena tritt einen Schritt zurück. Wie zuvor im Zimmer der verstorbenen Patientin überkommt sie der Drang, das Zimmer auf der Stelle zu verlassen. Durch Phyllis’ noch unausgesprochenen Gedanken aber fühlt sie sich wie festgepinnt.
»Was meinst du?«, fragt sie zögernd. »Wieso macht es keinen Unterschied?«
Phyllis zögert. Sie hat Milena und Jakob zusammen gesehen, weiß nicht viel über Jakob, aber genug, um zu ahnen, was er Milena bedeutet. »Ich denke nur«, sagt sie und schaut nicht Milena an, sondern an ihr vorbei zu dem ungewaschenen Geschirr, »wenn das Schiff wieder landet, wenn alle zurück in die Nachtstadt müssen, hat sich nichts verändert. Dort unten ist es noch immer dunkel und die Krankheit noch immer in ihren Körpern.«
Milena verschränkt die Arme. »Woher weißt du das?«, fragt sie.
»Ich weiß es ja gar nicht. Ich rede bloß.«
Phyllis winkt ab, um ihr zu bedeuten, dass sie das Gesagte vergessen soll, doch dafür ist es bereits zu spät. Milena dreht sich um, läuft aus der Küche und den Gang hinunter. Bei jedem Schritt spürt sie den weichen Teppich unter ihren Schuhen und den festen Boden unter dem Teppich und darunter mit einem Mal die Hunderte Meter Luft, die zwischen ihr und der Welt liegen. Auch mit der Welt, denkt sie, ist es nicht anders als mit dem Luftschiff: Sie hängt freischwebend im Raum, gehalten durch unsichtbare Kräfte, die jederzeit schwinden und Milena und das Schiff und die gesamte Welt in einem ewigen freien Fall zwischen den Sternen hindurch in die endlose Schwärze stürzen lassen könnten.
Jakob
Jeden Nachmittag treffen sie sich vor den großen Fenstern, ohne dass sie es haben besprechen oder vereinbaren müssen. Immer um die gleiche Uhrzeit, immer auf derselben Bank. Meist hat Milena ihr Buch bei sich, aber sie liest ihm nie vor, nicht dort, wo jederzeit jemand vorbeikommen könnte. Sie betrachten die Wolken, bis einer von beiden zu erzählen beginnt. Milena spricht über die Bücher, die sie gerade liest, nie über die anderen Patienten oder ihre Arbeit. Jakob erzählt ihr von den Arztbesuchen, der Physiotherapie und wie es sich anfühlt, endlich in seinen Körper zurückzufinden. Während der ersten Tage möchte sie alles hören, lobt ihn für jeden Fortschritt, ermahnt ihn, seine Übungen ernst zu nehmen, am dritten oder vierten Tag aber ist es, als sei etwas in ihr erlahmt, bis es schließlich ganz zum Stillstand kommt. Sie stellt immer weniger, dann gar keine Fragen mehr. Ihre Augen wandern unruhig umher, ihr Blick rutscht an ihm vorbei, hin zu den Fenstern. Sie lächelt, wenn er davon berichtet, wie er sich im Übungsraum mit den Gewichten abgemüht hat, aber das Lächeln will sich nicht in ihr Gesicht einfügen, das angespannt und abwesend ist: Sie sorgt sich.
Und während Milena sich sorgt und während Jakob sich erholt und während sie ihm noch immer jede Nacht vorliest und während sie in die Wolken schauen und er wartet und hofft, dass sie ihm von ihrer Kindheit, dem Meer und sich selbst erzählen wird, währenddessen nähert sich ihre Reise dem Ende. Obwohl er weiß, dass ihnen nur noch eine begrenzte Anzahl an gemeinsamen Nachmittagen vor den Fenstern und gemeinsamen Abenden in seiner Kabine bevorsteht, ist ihm diese Begrenzung, das bevorstehende Ende unvorstellbar. Sein Leben ist jetzt nur noch das: die Wolken, die Geschichten, Milena.
Immer wieder setzt er an, sie zu fragen, wann und wie sie einander wiedersehen werden, immer wieder verstummt er. Stattdessen erkundigt er sich, was Milena tun wird, nachdem sie gelandet sind. Kaum, dass er die Sprache auf ihre Rückkehr in die Nachtstadt gebracht hat, verfinstert sich Milenas Miene. Bevor sie antwortet, starrt sie mit gerunzelter Stirn auf das geschlossene Buch in ihrem Schoß.
»Ich bin nicht sicher, wie lange ich dort unten bleiben werde. Jetzt, wo man weiß, dass die Lichttherapie anschlägt, wird man weitere
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