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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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endlosen Vorträgen, mit denen du mich langweilen könntest, ich fürchte mich vor obskuren Interessen (Sudoku? Golf? Algorithmen?), vor Offenbarungen (Bist du Mitglied einer radikalen religiösen Sekte?). Ich fürchte mich auch vor dem gelangweilten Blick, den du womöglich auf deine Uhr werfen wirst, wenn ich dir von mir erzähle. Als menschliche Leerstelle hingegen bist du ohne Makel.
    Während ich tatenlos auf meinem Stuhl sitze, sage ich mir, dass der Moment auf dem Bibliotheksboden in jedem Sinne vollkommen gewesen ist, und alles, was jetzt folgen könnte, bloß etwas abtragen, etwas fortnehmen würde. Vielleicht denke ich auch im Geheimen, dass ich es mir jederzeit anders überlegen kann; dass ich mich bloß entscheiden muss, dich wiederzufinden, und dann wirst du noch immer dort sein: Im Paternoster, in einer Endlosschleife fährst du in der Kabine hoch und runter und runter und hoch. So lange, bis ich auftauche, dir die Hand reiche und dich zu mir hinausziehe.
    Später sagst du:
    Eine Woche bin ich jeden Tag zu den Schließfächern gegangen, dort habe ich herumgestanden und auf dich gewartet. Aber du bist nicht gekommen. Ich kam mir dumm vor. Also habe ich aufgehört, auf dich zu warten.
    Bis zu der Woche, in der du aus dem Paternoster gefallen bist, war der Sommer mild, nun aber scheint in der Welt eine unvorstellbar große Heizung aufgedreht worden zu sein. Der Temperaturanstieg legt unsere Körper lahm. Jeder klagt über Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen, Kreislaufprobleme. Meine Mutter behauptet, von der ersten Migräneattacke ihres Lebens befallen worden zu sein, aber ich halte es für wahrscheinlich, dass sie übertreibt. In meinem Schlafzimmer ist es so heiß, dass ich nicht mehr in meinem Bett schlafen kann und mich auf ein Handtuch in die gekachelte Kühle meines Badezimmers lege.
    In der Bibliothek suche ich mir unterdessen einen neuen Stammplatz und ziehe hoch in die fünfte Etage in einen Raum, der in etwa so groß wie mein Wohnzimmer ist. Dort stehen die Bücher der Theater-, Film- und Medienwissenschaften, aber Studenten kommen selten hierher, denn schon in gewöhnlichen Sommern wird es unerträglich heiß. Ich aber bleibe, auch als mir das Haar an der Stirn klebt und meine Finger schwitzig über die Tastatur rutschen. Mehr noch als die Hitze macht mir die Ruhe zu schaffen, die Tür, die sich viel zu selten öffnet, vielleicht vier, fünf Mal am Tag, das monotone Summen der Computer, die Gleichförmigkeit der Stunden und Tage. Dabei habe ich den Raum doch deswegen ausgewählt: weil nie jemand zufällig hierherkommt.
    Die Zeiträume, in denen ich still sitzen kann, werden immer kleiner. Schon nach wenigen Minuten habe ich das Gefühl, mit dem Stuhl zu verwachsen, Teil des Bibliotheksinventars zu sein. Ich muss dann aufspringen, mich ausschütteln, recken und dehnen, einige Schritte bis zum Fenster und wieder zurücklaufen.
    Mit den steigenden Temperaturen leert sich der Campus. Die Studenten lassen Vorlesungen und Seminare ausfallen, um ins Schwimmbad oder an den See zu fahren und die Hitze zu fliehen. Ich bleibe.
    Es ist gut zwei Jahre her, dass ich mein Leben angehalten, eingepackt und in die stillen Räume der Bibliothek verpflanzt habe. Im ersten Jahr, als alles neu war, nicht nur das Thema meiner Doktorarbeit, sondern auch der Campus, die Stadt und Professor Dunker, hatte ich das Gefühl, zumindest mit der Arbeit voranzukommen, wenn auch nicht mit meinem restlichen Leben. Im zweiten Jahr legte sich meine Begeisterung. Nun, da ich im dritten Jahr angekommen bin, verbringe ich noch immer den ganzen Tag in der Bibliothek, aber ich mache kaum Fortschritte, die Arbeit bäumt sich auf, ich stolpere über undurchdachte Argumente, logische Brüche und unvollständige Recherchen. Montags bis samstags, von morgens bis abends schaue ich in die Gartenanlage vor der Bibliothek. Ich kenne sie im Winter, im Frühling, im Sommer und im Herbst. Hinter der Scheibe fällt alles: orange-rote Blätter, taumelnde Schneeflocken, Regentropfen, mal unentschlossen, mal entschieden.
    Hier findest du mich. Hinter den Fenstern, hoch unter dem Dach warte ich wie ein Dornröschen, das noch nicht sicher ist, ob es schläft. Verheddert in Gedanken, die nun nicht mehr nur um sich selbst, sondern auch um dich kreisen, male ich geschlängelte Linien auf meine Notizzettel. Ich fürchte mich inzwischen nicht mehr vor einem plötzlichen Aufeinandertreffen mit dir, ich fürchte mich davor, dich nie wiederzusehen.
    Es ist

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