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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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dass du tief in meinen Schädel hineinsiehst, sich dir jeder Gedanke und jede Erinnerung, jede Angst und jeder Wunsch offenbart.
    »Das muss genäht werden«, sagst du. »Wir brauchen wirklich einen Krankenwagen.«
    Wir warten auf den Krankenwagen und wissen nicht, was wir zueinander sagen könnten. Wir kennen uns ja nicht. Trotzdem fühle ich mich allen, auch den beiden Frauen, verbunden. Der Gedanke, dass ich keinen von euch dreien wiedersehen werde, macht mich traurig, auf eine rührselige Weise, so wie man traurig ist, wenn man sich von einer Gruppe Menschen verabschiedet, die man eigentlich nie hat leiden können, denen man sich aber plötzlich nah fühlt, allein schon, weil man weiß, dass man ihnen nie wieder begegnen wird. Ich fange an, leise zu weinen. Vielleicht auch, weil nun doch alles schmerzt. Jetzt, da du nicht mehr auf mir liegst, spüre ich dein Gewicht, eine unglaubliche Schwere.
    Du betrachtest mich verstohlen, während ich zusammengesackt an der Wand lehne und mir eine der Frauen tröstend die Hand streichelt. Später erzählst du mir, dass eine irre Hektik über dich gekommen sei, du habest ja gespürt, wie dir die Minuten davonrannten, und überlegt, ob es möglich, ob es angemessen sei, mich nach meinem Namen, meiner Nummer zu fragen. In einem Film hättest du etwas Witziges und Romantisches gesagt, und die ganze Szene wäre witzig und romantisch gewesen und nicht mehr nur peinlich und unangenehm.
    Ist die Zeit unmittelbar nach deinem Fall zäh und dickflüssig gewesen, mehr getröpfelt als geflossen, rauscht sie mit einem Mal nur so durch uns hindurch: Plötzlich sind die Sanitäter da, und plötzlich liege ich auf einer Bahre, plötzlich in einem fahrenden Wagen, der mich fortbringt von der Bibliothek, von dem Schacht, von dir.
    *
    Ich weiß, dass du furchtsam und vernünftig bist, nicht aus Paternostern klettern möchtest, wenn es verboten ist. Ich weiß um die Farbe deiner Turnschuhe, und ich weiß um das Gewicht deiner Knochen auf meinen. Ich weiß nicht, wie und wo ich dich wiederfinden kann.
    Eine Nacht bleibe ich zur Beobachtung im Krankenhaus. Ich habe eine leichte Gehirnerschütterung.
    Und so geht der Witz, den wir uns noch Monate später erzählen. Bei unserer ersten Begegnung, da hast du mein Gehirn erschüttert. Tatsächlich erhole ich mich nie wieder von dieser ersten Erschütterung: Von hier an denke ich nicht mehr in geraden Bahnen; fortwährend entgleitet mir jeder Gedanke, jede Überlegung, und ich lande immer wieder bei dir.
    Ich rede mir ein, dass ich mich auf die Suche nach dir begeben würde, wenn ich einen Namen hätte, oder einen Anhaltspunkt, wo ich dich finden könnte. Hättest du bei deinem Sturz nur einen großen Atlas oder ein mehrbändiges Opernlexikon bei dir gehabt, gäbe es zumindest eine begrenzte Anzahl an Lesesälen, die ich nach dir durchforsten könnte.
    Ich kann mich nicht erinnern, dich zuvor schon einmal in der Bibliothek gesehen zu haben. Allerdings schaue ich auf dem Weg zu meinem Schreibtisch auch meist zu Boden oder ins Leere.
    Meine Suche nach dir kann mich also nur an einen einzigen Ort führen: zurück zu den Schließfächern im dritten Stock. Statt mich aber dort zu postieren und auf dich zu warten, statt stundenlang um die Säulen zu schleichen, suche ich mir ein neues Schließfach in der obersten Etage. Einmal, als ich glaube, deine Turnschuhe im Foyer blau aufblitzen zu sehen, da verstecke ich mich hinter einer der Säulen und bleibe gut fünf Minuten dort stehen, bevor ich mich wieder hervortraue.
    Ich fürchte mich davor, dir wieder zu begegnen. Ich fürchte mich, weil ich noch nie jemanden wie dich getroffen habe. Und ich spreche nicht von deinen Augen, deinem Haar, nicht einmal von deinen kobaltblauen Turnschuhen, sondern davon, dass ich, als du auf mich stürztest, als wir auf dem Boden lagen, bevor die Schmerzen kamen und der Schreck, dass ich dich mit beiden Armen und Beinen umklammern wollte, dich mit eisernem Griff packen und nie wieder loslassen. Ich spürte den kratzigen Teppich nicht unter mir und keinen Halt und keinen Boden. Da warst bloß du und wie ich dich überraschend zu fassen bekommen hatte. Jetzt aber ist es gerade diese Erinnerung, die mir Halt gibt, ich denke ununterbrochen an das Gewicht deiner Knochen, an deine Turnschuhe, deine Stimme, Verzeihung, Entschuldigung, Verzeihung.
    Gleichzeitig jedoch fürchte ich mich vor dem Menschen, der du sein könntest. Fürchte mich vor den schlechten Witzen, die du machen, den

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