Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
im Schacht.
»Hören Sie«, sage ich laut und bestimmt. »Sie können da rausspringen, ja, in Ordnung?«
Beide Frauen widersprechen aufgeregt.
»Nein, auf keinen Fall, das ist zu gefährlich.«
»Und verboten ist es auch.«
»Ich weiß nicht«, hören wir es dumpf aus dem Schacht. Und dann sehen wir zwei Hände, zwei Arme; du bückst dich, dein Kopf erscheint verkehrt herum in der Lücke.
»Also ich habe das auch mal gemacht, das ist keine so große Sache«, behaupte ich. Ich trete noch näher an den Schacht, bis ich unmittelbar davorstehe und auf Augenhöhe mit deinen Turnschuhen bin.
»Was wenn der Paternoster genau in dem Moment losfährt?«, fragt die eine der beiden Frauen.
Du weichst vom Rand zurück.
»Quatsch, wenn die feststecken, stecken die fest«, sage ich selbstsicher. »Keine Ahnung, Sie können auch da drinbleiben. Wir rufen irgendwo an. Es gibt bestimmt einen Notdienst oder so. Ich muss jedenfalls nach Hause.«
»Nein«, rufst du erschrocken, deine Füße tasten sich wieder bis zum Rand vor, und du faltest deinen Körper zusammen, bis er vollständig in der Lücke zu sehen ist. Und da spüre ich etwas im Brustkorb, ein aufgeregtes Flattern, ein schnelles Klopfen. Wahrscheinlich der Magen, denke ich, aber ich denke es nur halbherzig und wenig überzeugt.
»In Ordnung, ich springe jetzt einfach«, sagst du, und schon an deinem zögerlichen Ton glaube ich hören zu können, dass du nicht springen wirst. Hinter mir steht das Schließfach weit offen, meine Straßenbahn fährt in ungefähr fünf Minuten, und ich verstehe, dass ich in absehbarer Zeit nicht nach Hause kommen werde.
Die zwei Frauen, du und ich, wir vier verharren. Einige Sekunden passiert nichts, dann passieren drei Dinge auf einmal. Eine der Frauen sagt »Vielleicht rufen wir doch lieber irgendwo an«, du federst dich ab, und mit einem gequälten Ächzen setzt sich der Paternoster in Bewegung. Noch im Absprung verlierst du den Halt; die Kabine gibt nach und sackt ab. Dein Sprung wird zum Fall, und statt sicher auf den Füßen zu landen, gehst du strauchelnd auf mich nieder. Wir streifen die Schließfächer in meinem Rücken, meine Beine werden unter mir fortgerissen, und dann liege ich unter dir, zwischen dem Paternoster-Schacht und den Schließfächern.
Blinzelnd schaue ich zur Decke; über mir ragen die beiden Frauen in den Gang. Die Rechtsstehende hat beide Hände hochgerissen und hält sie wie eine Comicfigur vor den Mund. Bis auf das routinierte Knarren des Paternosters ist es still. Noch schmerzt nichts, nicht der Hinterkopf, den ich mir an der Kante der geöffneten Schließfachtür angeschlagen habe, nicht die Rippen und nicht der Rücken. Dein Gewicht spüre ich noch kaum, als du schon wieder aufgesprungen bist.
Wie schnell und vorsichtig du dich bewegst, du erinnerst mich an ein scheues Tier, ein Reh oder eine Katze, und es schießt mir durch den Kopf wie ein Geistesblitz oder eine Eingebung, der Gedanke, dass ich dich lieben könnte, das denke ich, nachdem ich dich nicht mehr als zwei ängstliche Sätze haben sagen hören, als ich nichts weiter von dir weiß, als dass du fallen kannst.
Schmerzen habe ich noch keine, als ich dort auf dem Boden liege, aber mir ist ein wenig schwindelig und ein wenig schlecht. Du sagst etwas. Obwohl ich deine Stimme höre, verstehe ich zunächst nicht, was. Erst im Nachhinein gewinnen deine Worte Form und Bedeutung. »Verzeihung«, sagst du. Und: »Entschuldigung.« Beides im Wechsel. Verzeihung. Entschuldigung. Verzeihung. Und ob du einen Krankenwagen rufen sollest.
Einen Krankenwagen, für wen denn? Ich öffne den Mund, schüttle den Kopf, denke, dass ein Krankenwagen das Letzte ist, was wir jetzt brauchen können. Eine der Frauen kniet sich neben mich und bestastet meinen Hinterkopf. Ich kann die Bewegung, den Druck ihrer Finger nicht spüren, und als sie die Hand wieder hervorzieht, sind zwei ihrer Finger feucht und rot. Blut, denke ich und ekle mich; die Frau hat mich mit ihren blutigen Fingern angefasst! Dann verstehe ich, dass es mein Blut ist. Wahrscheinlich werde ich jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Was, wenn ich nun ins Dunkel kippe, erst in einigen Stunden in einem Krankenhausbett zu mir komme, ohne eine Spur von dir, ohne eine Möglichkeit, dich wiederzufinden? Nun bin ich hellwach.
»Ist gar nicht so schlimm«, sage ich und lalle, als sei ich betrunken. Da kniest auch du dich neben mich und drehst meinen Kopf. Sehr leicht nur. Wie du mich begutachtest, glaube ich,
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