Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
fürchte ich mich bereits ein wenig. »Gibt ja den Zweitschlüssel«, erkläre ich mir, und dann suche ich nach dem Zweitschlüssel, der genauso unauffindbar ist wie der Erstschlüssel. Ich bin bekannt für meine Zerstreutheit, verliere und verlege regelmäßig alles. Weil meine Mutter und Nina, Frank und Nils sich bereits mehrfach darüber lustig gemacht haben, möchte ich keinen der vier anrufen. Es wäre ja auch albern – wie sollten sie mir schon helfen? Es gibt überhaupt niemanden, der mir helfen kann. Ich kann schlecht den Schlüsseldienst anrufen und sie bitten, mich aus meiner eigenen Wohnung zu befreien.
Schon bald nimmt meine Suche hysterische Züge an. Wieder und wieder durchforste ich Taschen, Rucksäcke und Kartons, die ich bereits als leer vermerkt habe. Ich schaue im Kühlschrank nach und in der Teebox. Als ich bei der Spülmaschine angelangt bin, weine ich bereits. Zunächst aus Frustration, dann aus aufrichtiger Trauer. Der verlorene Schlüssel ist nicht mehr nur ein tatsächlicher, sondern vor allem ein symbolischer Gegenstand. Hektisch Pullover und Blusen aus meinem Kleiderschrank zerrend, erkenne ich, dass ich der einsamste Mensch der Stadt bin. Ich bin so einsam, dass ich meinen Zweitschlüssel nicht einmal Nachbarn oder Freunden habe geben können. Ursprünglich wollte ich ihn Nils zur Verwahrung anvertrauen, dann aber habe ich geträumt, Nils würde sich in die Wohnung schleichen und durch meine Doktorarbeit wühlen, um mir wichtige Zitate zu stehlen.
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, sage ich finster und schlage den Kopf kurz und eher unentschlossen gegen meine Kleiderschranktür. »Daran bist nur du allein Schuld.«
Ich finde den Schlüssel am späten Nachmittag. Als ich vor der Waschmaschine in die Hocke gehe, um in der Trommel nach ihm zu suchen, bohrt sich etwas in meinen Oberschenkel: Der Schlüssel steckt in meiner Hosentasche. Statt die Tür aufzuschließen, muss ich ihn aus dem Schloss gezogen und eingesteckt haben. Nun, da ich ihn in den Händen halte, bin ich schlagartig erleichtert, und dann bin ich es ebenso schnell nicht mehr. Meine Hände zittern, als ich die Wohnungstür aufschließe, in großer Eile werfe ich meinen Trenchcoat über und renne durch das Treppenhaus hinaus auf die Straße und weiter in den Park. Obwohl es bereits dunkel wird und ich zu kühl angezogen bin, will ich nicht wieder zurück in die Wohnung gehen. Nachdem ich eine großzügige Runde um den See gelaufen bin, komme ich auf dem Heimweg an einem Pavillon vorbei. In dem Pavillon steht eine Frau. Sie trägt einen langen, schwarzen Mantel, gekleidet ist sie eher für den Winter als für den Herbst, und tatsächlich kommt mir die Luft mit einem Mal winterlich vor. Die Frau bewegt sich nicht. Während ich weiterlaufe, befindet sich der Pavillon die ganze Zeit über in meinem Blickfeld. Ich weiß nicht, warum es so ist, aber dass die Frau sich noch immer nicht bewegt, beunruhigt mich. So sehr, dass ich mit jedem Schritt langsamer werde und schließlich stehen bleibe. Schon wenige Sekunden später fällt mir auf, dass ich genauso reglos wie die Frau verharre; ich gebe mir einen Ruck und laufe los. Erst jetzt fallen mir die Krähen in den Bäumen auf, es sind unzählige, als hätten sie sich hier im Park verabredet, als würden sie auf etwas warten.
Am Telefon sage ich zu Nils, dass ich doch mitkomme zur Party, allerdings nur unter der Bedingung, dass wir uns vorher treffen, weil ich nicht alleine dort auftauchen will.
Wir sind vor dem Copyshop verabredet. Lisa will mich mit Wangenküssen begrüßen, aber bevor sie sich vorbeugen kann, reiche ich ihr die Hand. Den Weg bis zum Haus trotte ich schweigend hinter den beiden durch die Abendluft. Ich habe große Lust, wieder umzukehren, aber dann denke ich an den Schlüssel, an die Krähen, an die schwarz gekleidete Frau im Pavillon.
In dem verfallenden Haus gibt es keinen Strom mehr und auch kein fließendes Wasser. Wenn man auf Toilette will, muss man bei den Nachbarn klingeln, aber die meisten gehen in den Garten, der mir mit seinem wuchernden Unkraut, seinen Glasscherben und Fetzen aus Stacheldrahtzaun bedrohlich scheint. Ich würde mich nicht weiter wundern, hinter den Büschen einem Wolf zu begegnen, in Tierfallen zu treten oder auf endlose Tunnel ins Nirgendwo zu stoßen.
Auf dem Grundstück ist der Bau zweier neuer Häuser geplant, erzählt Lisa. Ihre Freunde, die vielleicht eher Bekannte oder vielleicht eher entfernte Bekannte sind, haben das
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