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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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freundlich zunickst. Erst später verstehe ich, dass du die Hälfte der Anwesenden von der Kunsthochschule kennst, dass ein Großteil deiner Freunde anwesend ist. Und trotzdem sprichst du den ganzen Abend nur mit mir. Oder eher: hörst mir zu. Denn als ich erst einmal angefangen habe zu erzählen, da kann ich nicht wieder aufhören.
    Ich erzähle dir von meiner Mutter. Erzähle, dass meine Schwester und ich von Mitschülern und Nachbarn oft um unsere Eltern beneidet wurden: ein Vater, der nie schrie und schimpfte, weil er gar nicht da war, und eine Mutter, die wenig verbot und uns erlaubte, abends so lange fortzubleiben, wie wir es wollten – nur, dass ich nie wusste, wohin ich abends hätte gehen sollen. Ich erzähle, dass ich mir eine ängstlichere, sorgenvollere Mutter wünschte und davon, dass ich nie das Gefühl hatte, mich von etwas befreien oder lösen zu müssen, weil es so wenig Halt gab.
    Ich erzähle dir von meinem Gravitationsfeld und dass ich schon als Kind den Tod, Krankheiten und Katastrophen fürchtete.
    Ich erzähle dir von Corwin und Merwin. Von dem Brotmesser und dem Pfefferspray unter meinem Bett.
    Ich erzähle dir von den Nächten und meinem Ringen um Schlaf. Davon dass ich jeden Abend eine Baldriantablette nehme, obwohl ich nicht glaube, dass sie einen Unterschied machen. Abends fühle ich mich so erschöpft, dass ich schnell einschlafe, früher oder später spuckt mich der Schlaf aber wieder aus, und ich komme im dämmrigen Zimmer zu mir, meine Gelenke schmerzen, als sei ich Kilometer gerannt, in meinem rechten Ohr rauscht und klopft es, und hinter dem Rauschen höre ich den schweren Atem jenes unsichtbaren Tieres, durch das ich mich noch immer verfolgt fühle.
    Ich erzähle dir von meinen Großeltern und meinen Sommern in Erlburg. Auch nachdem wir in die Stadt gezogen waren, fuhr ich in den großen Ferien immer dorthin zurück. Dort verbrachte ich die heißen Tage; auf dem Rasen neben dem Teich lag ich und wartete, ungeduldig und zuversichtlich, auf die Zukunft, von der ich mir Großes versprach: Abenteuer und Reisen, nicht bloß ein Leben, sondern gleich mehrere in rascher Abfolge. Ich glaubte damals, dass ich einmal am Meer leben würde und im Wald, glaubte, früher oder später in eine Großstadt mit Lärm, mit Menschen, U-Bahnen und hohen Häusern zu ziehen, gleichzeitig sah ich mich in einem beschaulichen Dorf, mit einem Häuschen am Fluss, am Waldrand.
    Ich erzähle dir, dass ich das Gefühl habe, die Vergangenheit verblasse und verschwinde, während die Zukunft noch auf sich warten lässt. Und dass ich mich an diesem Punkt meines Lebens an einem Nicht-Ort wiedergefunden habe, einem Wartezimmer, in dem nichts passiert, keine Krankheit geheilt und keine Beschwerden gelindert werden.
    Mitten in der Nacht stehen wir in dem wilden Garten. Es hat angefangen zu regnen, und ich bin so betrunken, dass die Welt um mich herum zu schwimmen scheint. Niemand ist mehr im Haus, alle sind nach draußen gekommen. Man klettert auf schmutzig weiße Plastikstühle, küsst sich hoch oben in den Baumkronen und tanzt in einer Badewanne voller Unkraut und Dreck.
    Wir aber stehen still.
    Wir küssen uns nicht, wir versprechen uns nichts, wir sehen uns nicht einmal tief in die Augen, aber etwas geschieht wohl, in der regendurchsetzten Luft, in dem unkrautüberwucherten Boden. Es umgibt uns, es durchdringt uns. Ein drittes Mal haben wir einander gefunden, und dieses Mal werden wir uns nicht verlieren.
    *
    Monate später frage ich dich, ob du wieder einmal mit mir in die Bibliothek kommst. Du schaust mich verwundert an, als hätte ich einen besonders abwegigen Vorschlag gemacht.
    »Wozu das denn?«
    Ich überlege. Was treibt man als Kunststudent in einer Bibliothek? »Was hast du denn damals immer gemacht? Als wir uns getroffen haben, bei den Schließfächern.«
    Einen Moment schaust du mich misstrauisch an, als müsstest du erst noch herausfinden, ob ich dich nicht auf den Arm nehmen will. Dann lachst du. »Ich war bloß ein einziges Mal in der Bibliothek, weil ich dort etwas zu tun hatte. An dem Nachmittag, als ich im Paternoster steckengeblieben bin, wollte ich mir ein Buch ausleihen. Danach bin ich bloß wegen dir wiedergekommen. Als ich wusste, in welcher Etage du arbeitest, habe ich mich so lange vor den Schließfächern herumgetrieben, bis du aufgetaucht bist.«
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