Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
gewöhnliche Gefangene. Und wie du dort sitzt, deine Unterarme reibst, die Knie anziehst und fröstelst, da verstehst du, dass du dir etwas Besseres wirst einfallen lassen müssen, wenn du diesen Ort je verlassen willst.
*
»Noch hier?«, fragt Jacques und versucht, spöttisch wie du zu klingen, findet aber nicht den richtigen Ton. Wenn er spricht, zittert seine Stimme, er stottert und stolpert über die Worte.
»Aber nicht mehr lange«, sagst du.
»Wann gehst du?«
Wenn du mit mir kommst!, willst du rufen, weißt es aber besser, blickst zur Seite und zu Boden. »Bald schon«, sagst du, und ihr schaut in die Ferne oder zumindest so weit ihr schauen könnt, bevor sich die nächste Mauer zwischen euch und die Stadt schiebt.
»Und wo willst du dann hin?«, fragt Jacques.
»Werde ich dann sehen«, sagst du und meinst es so. Es geht darum, diesen Ort zu verlassen. Mit ihm . Was danach kommt, ist nicht wichtig.
»Vielleicht«, sagt er, »komme ich mit.«
Du gräbst die Fingernägel in die Handinnenflächen, du saugst die Innenseiten deines Mundes ein und beißt zu, bis es blutet. Währenddessen gibst du keinen Ton von dir, zählst bis zehn und sprichst erst dann. »Wer weiß, ob ich dich jetzt noch mitnehme«, sagst du, und an deine Stimme schmiegt sich der Spott ganz selbstverständlich an.
Erschrocken dreht Jacques dir den Kopf zu, versucht herauszufinden, ob du dich lustig machst, aber du hast deine Züge beisammen, dein Gesicht ist schon lange kein Spiegel mehr, und auch kein Fenster.
»Übermorgen«, sagst du, als hättest du diesen Zeitpunkt von langer Hand geplant und dir nicht eben erst überlegt.
»Übermorgen«, sagt er und nickt.
»Was ist mit dem Arzt?«
Jacques schweigt. Er will dir nicht verraten, dass ihm die große Hoffnung durch die Finger geglitten ist, noch bevor er sie richtig zu fassen bekam. Dass sich der Arzt wie ein dunkles Gespenst in seine Träume stiehlt und Jacques zu sich herunterzieht, in sein Labor tief unter der Erde. Von diesen Räumlichkeiten haben ihm die anderen Patienten erzählt. In den ehemaligen Kellern untersuche der Arzt seine Patienten mit den fortschrittlichsten Methoden, den neusten Techniken. Es gebe dort einen Stuhl, auf dem schnalle er sie fest. Dann schiebe er das Lid des rechten Auges nach oben, nehme einen Eispickel zur Hand, setze ihn am oberen Rand des Augapfels an und stoße ihn durch den Schädel, der an dieser Stelle dünn und leicht zu durchdringen sei. Mit kaum mehr als einem Klopfen könne er bis ins Gehirn gelangen und dort die fehlerhaften Verbindungen kappen. Die Prozedur werde auf der linken Seite wiederholt. Ohne viel Aufhebens sei der Patient geheilt und äußerlich kaum mehr zu sehen als bläulich violette Schatten über den Augen.
Um nicht länger an die geflüsterten Geschichten zu denken und an den neuen Arzt, dem er morgen vorgestellt werden soll, schaut Jacques dich an, deine rotfleckigen Wangen, die schnellen Hände. Wenn du einmal vergisst, dich auf sie zu setzen, dann verknotest du deine Finger oder lässt sie durch die Luft flattern wie irre Vögel. Immerzu bist du in Bewegung.
Noch nie hat er jemanden so schnell und so viel reden hören, denkt Jacques, und dass du immer voller Versprechen und Worte bist. Er ist sicher: Du könntest sogar die Steine überzeugen, dass sie auf Bäumen wachsen, und die Fische, dass sie besser fliegen sollten.
Du, Augustine, ahnst nichts von Jacques’ Gedanken. Du weißt auch nichts von den fortschrittlichen Methoden des Arztes, von den modernen Techniken. Dir aber muss auch niemand von dem Labor, von dem Stuhl und dem Eispickel erzählen. Seitdem dich der Arzt ohne Namen gestreift hat, weißt du alles, was du wissen musst. Du willst Jacques’ Hand nehmen, willst sie drücken, bis er dir verspricht, bis er schwört, auf sein Leben, auf dein Leben, auf die Leben aller, die ihr kennt, dass er mit dir kommen wird.
Stattdessen zählst du wieder Kacheln.
Die Anspannung macht dich unvorsichtig. Am Nachmittag bist du durch den Flur getrampelt und hast mit Türen geknallt. Mme. Couronne hat dich ermahnt, doch sie hat es halbherzig getan und ohne den alten Elan. Die Schwestern haben zwar noch ein wachsames Auge auf dich, doch dir ist schon aufgefallen, dass sie mit den Gedanken woanders sind. Mme. Couronne etwa rümpft gelangweilt die Nase, wenn du ihr zu nahe kommst, so als ginge bereits ein modriger Geruch von dir aus. Deine Tage, scheint es, sind gezählt, und die Schwestern haben weiß Gott anderes im
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