Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
ganzen Menschen auf deinem Rücken tragen müssen. Du siehst auf ihn hinunter. Dass er kleiner ist als du, hast du schon bemerkt, nun aber scheint er dir nur halb so groß. Je lauter du sprichst, umso weiter sinkt er in sich zusammen. Also reißt du die Zügel herum und versuchst es mit dem Gegenteil dessen, was du eigentlich tun willst: Statt ihn zu packen und hinter dir herzuschleifen, drückst du den Rücken fest gegen die Lehne der Bank, statt weiter auf ihn einzureden, hörst du ihm zu.
César ist dir ein guter Lehrmeister gewesen, und nun nimmst du dir ein Beispiel an ihm: Du tauchst tief in Jacques ein, bis auf den Grund seiner Person, bis in seine Kindheit, bis in seine Träume.
Er erzählt dir, dass er sich als Kind nicht vor der Dunkelheit fürchtete, sondern vor Helligkeit. In der Dunkelheit stellte er sich vor, aus nichts weiter als Augen und einem Mund zu bestehen; das nächtliche Getier, die Spinnen und Käfer, die er in den Ecken und Ritzen seines Zimmers wähnte, konnten ihm dann nichts anhaben, konnten nicht über seine Arme und Beine durch seine Ohren und Nasenlöcher in seinen Schädel kriechen, denn sein Körper hatte sich längst aufgelöst. Er war Staub, er war verschwunden.
Er erzählt dir, dass er nicht erst seit der Kutsche mit dem Schlimmsten rechnet, dass der Unfall eher wie die überraschend offensichtliche Bestätigung des längst Befürchteten dahergekommen ist. Er hat noch nie recht an Möglichkeiten, sondern immer eher an Katastrophen geglaubt.
Er bestätigt, dass es ihm, anders als dir, leichtfalle, stundenlang still zu sitzen, nichts zu tun, auszuharren, dass er im Geheimen davon träume, mit straffen Gurten an ein Bett geschnallt zu werden, sodass er sich nicht mehr bewegen kann. Dann erst gäbe es nichts mehr zu fürchten.
Du hörst ihm zu, während der frühe Nachmittag in den späten Nachmittag übergeht, und der späte Nachmittag in den Abend. Und als er zu Ende gesprochen hat, zählst du die Kacheln an der gegenüberliegenden Wand und verflichtst die Finger. Doch sosehr du dich auch bemühst, du kannst nicht länger an dich halten. Und schon redest du wieder auf ihn ein, zu schnell, zu laut. Du weißt: Wer stillhält, abwartet und nichts tut, verpasst jene Momente, in denen es gilt, die Beine in die Hand zu nehmen, Haken schlagend und nach Luft schnappend davonzurennen.
In dieser Nacht bist du außer dir.
Du verlässt deinen Körper, bist nicht mehr einzugrenzen, verlierst dich in einer Wut, die du bisher nicht gekannt hast. Dieser Ort ist dir ein Zuhause gewesen, Blanche Wittman und der Arzt ohne Namen aber haben alles verändert, und nun erkennst du die Hallen als das, was sie vielleicht schon immer gewesen sind: als Gefängnis. Du hast hier nichts mehr verloren. Nein, im Gegenteil, du hast hier bereits etwas gefunden, Jacques hast du gefunden, und nun ist es an der Zeit zu gehen, zu verschwinden.
Du erinnerst dich an die Zeit, in der du César so nah warst, dass du einfach aus der Klinik hättest spazieren können. Hin und wieder hast du genau das getan. César wusste darum, wusste aber auch, dass du zurückkommen würdest. Denn genauso, wie er dich brauchte, zum Anschauen, brauchtest du ihn, um angeschaut zu werden. Und wo hättest du auch hingehen sollen?
An diesem Abend hast du es drauf ankommen lassen und bist wie beiläufig auf das Tor zur Welt zugesteuert. Besonders weit bist du nicht gekommen, bevor Mme. Couronne nach dir gerufen hat: »Wo soll es denn hingehen, Mme. – ?«
Natürlich sagt sie deinen vollen Namen. Aber den kennen wir nicht. Dein Gesicht auf hundert Fotos liegt uns auch heute noch vor, aber dein voller Name, deine restliche Geschichte ist irgendwo im letzten Jahrhundert abhandengekommen. Deine Spuren werden sich verlieren, sobald du die Salpêtrière verlässt.
Noch sind wir aber hier, und noch ruft Mme. Couronne deinen Namen und eilt dir hinterher. Zwar kannst du sie abschütteln, doch nach ihr kommt eine weitere Schwester; es folgen die Männer und der Äther und die Nacht und die Schwärze und das Nichts.
Als du aus dem Nichts wieder auftauchst, findest du dich in einem kleinen stickigen Raum wieder. Schwaches Licht fällt durch ein vergittertes Fenster, und dir kommt der Verdacht, dass man dich getötet und in der Erde verscharrt hat, dass du dein eigener Geist geworden bist. Du setzt dich auf. Langsam gewöhnen sich deine Augen an die Dunkelheit, und du erkennst eine Pritsche, eine eiserne Tür. Also bist du kein Geist, sondern eine
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