Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
nicht zurück, und da begreifst du, dass er dich nicht erkennt. Auguste bröckelt. Nicht im Raum, nicht in der Halle, sondern tief im Schädel hörst du ein Dröhnen, einen tiefen Ton, und du weißt, dass sich irgendwo in den Kellern der Arzt auf den Weg zu euch macht. Knirschend verschieben sich Plättchen, nichts hier scheint noch richtig, scheint noch möglich, auch nicht eure Flucht. Jacques und du, ihr seid zwei Salzsäulen, zwei Ertappte. Du schluckst. In dem Augenblick schlingt sich Jacques’ Blick um deinen, ihr verknotet euch, stolpernd wirst du auf ihn zu gezogen.
»Da bist du«, sagt er.
»Ja«, sagst du und willst lächeln, bist aber schon festgewachsen in dieser neuen Person: Auguste, ein ernster Arzt, der vor seinem Patienten steht und ihn aus Gründen, die niemand recht versteht, die aber auch niemand hinterfragen wird, aus dieser Klinik bringt.
Aber glaubst du das denn tatsächlich, glaubst du, dass es zwei Patienten gelingen kann, aus der angesehensten Nervenheilanstalt Europas zu spazieren?
Nun, du solltest daran glauben, denn hier ist die eine Sache, die du noch nicht weißt: Es kann passieren, denn es ist passiert.
Vor über hundert Jahren bist du, Augustine, verschwunden. Du Houdini der Salpêtrière hast dich eines Tages oder vielleicht eher eines Nachts von der Bühne gestohlen. Geblieben sind nichts als obskure Fotos; deine Spur hat sich verloren. Alles, was man weiß, ist, dass du nie wieder an diesen Ort zurückgekehrt bist.
Ihr lauft los, und noch immer bewegt Jacques sich so ungelenk und steif, dass du ihn am Arm packen und wie einen Schlafwandler führen musst. Unter den Augen der Schwestern und Ärzte schreitest du gemessen; sobald ihr aber einen leeren Gang betretet, rennst du, Jacques hinter dir herziehend. Ein Zittern geht nun durch das Mauerwerk, und ohne dass du zurückschauen musst, ahnst du, dass der Raum hinter euch sich aufrollt, die Salpêtrière sich in sich selbst zusammenfaltet. Etwas frisst sich durch die kleinsten Teilchen, und jene Festung aus Stein, in der ihr euch gefunden habt, zerfällt, zersplittert, verliert sich in feinstem Staub. Und auch die Zeit rinnt euch davon. Ihr müsst schneller sein. Nun aber kommen euch immer mehr Schwestern entgegen, ein Heer von Frauen, und sie alle gleichen sich bis aufs graue, strengfrisierte Haar. Zehn, nein, hundert, nein, tausend von ihnen marschieren auf euch zu. Doch keine hält euch zurück, sie strömen an euch vorbei, die Augen auf einen Punkt hinter euch gerichtet. Es scheint, als wollten sie nicht euch, sondern jemand anderen aufhalten.
Jacques wird langsamer. Die Lampen an den Wänden flackern, der Boden unter euren Füßen zittert; ihr könnt das Tor sehen, weit geöffnet für den eiligen Arzt und seinen Patienten. Da bleibt Jacques stehen. Du ziehst an ihm, redest auf ihn ein, versuchst, ihm in die Augen zu schauen, aber er blickt an dir vorbei und zum Tor.
»Ich weiß nicht, was dahinter kommt«, sagt er.
Es dämmert um euch und in euch, und du erinnerst dich, dass Jacques schon als Kind von der Dunkelheit träumte, davon, in ihr zu zerfließen, zu verschwinden, sich geschützt glaubte, vor dem zirpenden, raschelnden Nachtgetier, vor den hundert Augen der Käfer und Spinnen. Doch nur ein Kind kann denken, dass es nicht gesehen wird, weil es selbst blind ist.
Du hörst ein lautes Klopfen, ein Pochen, ein Hämmern, und du verstehst, dass es eure Herzen sind, die in den Wänden schlagen, im Boden, in der Decke und der Luft.
»Du musst mit mir kommen«, sagst du.
»Was ist, wenn du mich nicht findest?«, fragt Jacques, weil er verstanden hat, dass ihr zwar gemeinsam durch das Tor gehen werdet, jedoch jeder für sich auf der anderen Seite heraustreten wird.
»Ich finde dich«, sagst du. Und wie du es sagst, wird es ein Versprechen und wahr.
Die letzte Minute bricht an. In diesen Hallen werden alle Lichter gelöscht; ihr verlasst die Bühne. Und während du durch das Tor trittst und die erste Schneeflocke auf dein Haar fällt, spürst du, wie sich etwas löst, wie du etwas verlierst. Du hältst Jacques’ Hand nicht mehr.
Die dritte Geschichte:
Im Winterwald
Das Unaufhaltsame-Kraft-Paradox
Das Paradox beschäftigt sich mit der Frage, was passiert, wenn eine unaufhaltsame Kraft auf ein unverrückbares Objekt trifft. Die scheinbar unbeantwortbare Frage – was geschieht, wenn die unaufhaltsame Kraft mit dem unverrückbaren Objekt kollidiert? – lässt sich nach
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