Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
vertauscht sind. In der Regel bist du es ja, die ihn aufspürt. Gleich, wo in der Klinik er sich versteckt, du findest ihn überall.
An diesem Nachmittag spielst du ein Spiel mit dir selbst, eine Art Hüpfkästchen, nur dass deine Kreidezeichnungen unsichtbar sind und niemand außer dir versteht, warum du hüpfst, wie du hüpfst. Jacques beobachtet, wie sich deine Lippen bewegen, während du, ganz vertieft in dein Spiel, vor dich hin murmelst, wie sich dein Haar aus dem Knoten löst und dir dein weißes Kleid um den mageren Körper schlackert. Er lässt sich nicht täuschen. Du bist stark, weiß er, und wenn du wolltest, könntest du ihn über die Schulter werfen und viele Meilen bis hinter den Stadtrand tragen. Er hat gehört, dass du hier ein Star bist, dass Charcot dich in den Dienstagsvorlesungen wie ein Ass aus dem Ärmel zieht. Und als du ihn das erste Mal ansprachst, als du seinen Namen sagtest, da bekam er seine Sprache nicht zusammen.
Die erste Zeit glaubte Jacques, du müsstest Charcots Tochter, seine Nichte oder Geliebte sein, so frei, wie du dich in den Gängen bewegst. Erst ein anderer Patient verriet ihm deine Geschichte, deinen Namen. Keine Nichte, Geliebte oder Tochter also: Du bist auch hier, weil du dich nicht zusammenreißen kannst, und man glaubt, dich zusammenfügen zu können.
Jacques hört, wie einige der Schwestern sich über dich unterhalten. Am Vortag bist du wieder einmal in Charcots Untersuchungsraum eskaliert, und es heißt, du habest dich verändert, du seist nicht mehr dieselbe. Jacques kann nicht sagen, ob du dich verändert hast oder nicht. Er kennt dich nur so, wie du jetzt bist. Was weiß er, wie du früher warst. (Fromm wie ein Lamm.) Auch von der momentanen Krise versteht er nichts. Du willst dich also nicht mehr fotografieren lassen, wer aber könnte das nicht verstehen? Ein berühmter französischer Schriftsteller, dessen Namen Jacques vergessen hat, ein berühmter namenloser Schriftsteller also hat behauptet, der Fotoapparat raube dem Menschen Schichten seiner Seele. Zu recht, denkt Jacques, sollte man der geheimnisvollen Apparatur misstrauen. Schließlich kann sie kaum mit dem Nichts arbeiten. Wenn sie an einer Stelle etwas hervorbringt, wird sie an anderer wohl etwas fortnehmen. Solange man nicht hat herausfinden können, aus wie vielen Schichten Seele der Mensch sich zusammensetzt, käme Jacques nie in den Sinn, sich fotografieren zu lassen. Warum jemand anderes das Risiko auf sich nehmen würde, will sich ihm nicht erschließen, und er fragt dich: »Macht es dir keine Angst?«
»Nein«, behauptest du. Und: »Eigentlich nicht.«
Dass du wohl vor nichts und niemandem Angst hast, denkt Jacques. Oder lügst.
»Und stört es dich nicht, dass sie dich mit nach Hause nehmen, dir ins Gesicht schauen und du nicht mal zurückschauen kannst?«
»Das bin doch nicht ich. Es sind nur Bilder. Auf denen zeige ich, was sie sehen wollen. Nichts davon hat mit mir zu tun.«
Jacques glaubt dir nicht, er kennt deine Bilder. Auf einem faltest du die Hände, halb Heilige, halb einfältiges Kind. Auf einem anderen ziehst du eine Fratze, rollst die Augen, zeigst deine spitzen, kleinen Zähne. Besonders vor den wilden Bildern fürchtet er sich. Mit dem gebleckten Gebiss erinnerst du ihn an die Kreaturen, die Albgeschöpfe seiner Kindheit.
Er hat dich lieber, so wie du jetzt bist: Mit glänzend gekämmtem Haar und ordentlichem Gesicht sitzt du ihm gegenüber. In diesen Momenten scheint es ihm unwahrscheinlich, unglaubwürdig, dass er dich erst wenige Wochen kennt, dass es eine Zeit gab, und sie liegt nicht lange zurück, in der er noch nie ein Wort mit dir gesprochen hatte, in der er nichts von dir wusste und du nichts von ihm. Gleichzeitig aber weiß er um die Bilder, weiß, dass du auf Césars Geheiß hin auseinanderfallen kannst. Er würde dir folgen, aus der Klinik und wohin auch immer du ihn führen willst, er würde dir folgen, wenn er nur nichts wüsste von dem Weiß in deinen Augen und deinen spitzen, kleinen Zähnen.
*
Heute hast du so getobt, dass sie dich mit Chloroform betäuben mussten. Dieser Anfall war anders als alle vorherigen; er gehörte dir allein. Einem Fachpublikum hätte César ihn kaum vorführen wollen, denn er war pures Chaos, ohne Phasen, ohne Struktur. Und als César dir die Hände auf den Bauch legte, tat sich nichts, du schriest weiter, du warst nicht geheilt worden.
Dann, sagte César, müsse er an diesem Dienstag wohl eine andere nehmen.
Eine andere? Bis
Weitere Kostenlose Bücher