Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
Vom Netzwerk:
Kopf als ein Lumpenmädchen, ein Schmuddelkind, das gerne Zähne zeigt. Wenn sie nicht gerade über Blanche Wittman tuscheln, die Näherin, die sich für eine Dame hält, dann erzählen sie sich Spukgeschichten über den neuen Arzt. Weil keine von ihnen freiwillig in das Labor hinabsteigt, um ihm seinen Kaffee zu bringen, haben sie begonnen auszulosen, wer hinuntergehen muss. Besonders oft muss das Los allerdings nicht entscheiden, denn der neue Arzt möchte keinen Kaffee, möchte keinen Kuchen, möchte vor allem eines nicht: gestört werden. Mit den Schwestern spricht er so gut wie nie, den anderen Ärzten geht er aus dem Weg, nicht einmal mit César scheint er sich zu beraten. Alles in allem scheint es den Schwestern, er sei durch die gröberen Maschen des Systems geschlüpft, als wisse überhaupt niemand, dass und warum er hier ist. Doch wann immer die Schwestern das Problem zur Sprache bringen wollen, legt sich ihnen etwas Schweres auf die Zungen, und ganz plötzlich entgleiten ihnen die gerade erst gefassten Gedanken.
    Wie du die Salpêtrière verlässt?
    Ganz einfach: überhaupt nicht. Nicht du wirst diesen Ort verlassen, sondern ein Arzt namens Auguste. Mit dem Zylinder auf dem Kopf und im Anzug wird er durch das Tor schreiten. Wie aber kommst du an den Zylinder, an den Anzug, an den Namen?
    Alles drei stiehlst du einem jungen Doktor. Zunächst will er dir weder den Zylinder noch den Anzug geben – dass du seinen Namen entwenden wirst, ahnt er nicht.
    »Bitte«, sagst du und bemühst dich um ein liebes Gesicht. Besonders hübsch sieht das nicht aus, aber der junge Arzt mag dich gern, hat einen blinden Fleck, wenn es um dich geht. Also bittest du ihn ein zweites, ein drittes Mal um Zylinder und Anzug.
    Das ist wieder so eine Verrücktheit, sagt sich der Arzt. Und darüber muss man sich nicht wundern, dass die Frauen auf einmal Männer sein wollen, das ist nicht nur hier so, sondern auch in der Stadt, im ganzen Land. Wenn du dich verkleiden möchtest, dann überlässt er dir eben das Kostüm.
    Das war schon der schwierigste Teil, jetzt musst du die Veränderung nur noch in dir selbst ankurbeln, und weil du auch im Kern ein Chamäleon bist, fällt dir das leicht. Als Erstes disziplinierst du deinen Körper neu. Vor allem ist es dein Gang, deine Haltung, durch welche du dich nicht verraten solltest. Mit weiten, festen Schritten durchmisst du den Raum. Groß bist du ohnehin, nun streckst du dich, machst einen geraden Rücken, hebst den Kopf, bewegst dich und trittst auf wie einer, der sucht, nicht wie eine, die sich versteckt. Die Lippen presst du zusammen, dein Blick wird streng. Und genau so wirst du diesen Ort verlassen. Du wirst nicht an der Außenfassade entlangklettern. Du wirst dich nicht abseilen. Du wirst keinen unterirdischen Tunnel graben. Du wirst diese Klinik verlassen, so wie du sie vor langer Zeit betreten hast: durch die Vordertür, als jemand, der du nicht bist.
    Am frühen Abend schwebst du durch die obere Etage und die Treppe hinunter. Erst als du unten angekommen bist, verändert sich dein Schritt, wird schwer und bestimmt. Dein Haar, in einen Knoten geschlungen, hast du unter dem Zylinder versteckt. Du könntest ein junger Arzt namens Auguste sein. Wenn eine Schwester dir entgegenkommt, hältst du den Kopf gerade, schaust du nicht in die andere Richtung, nicht zu Boden, sondern durch die Schwestern hindurch, wie die Ärzte es tun. Bevor du die Halle betrittst, straffst du die Schultern. Du versuchst, dir vorzustellen, dass Jacques nicht gekommen ist. Versuchst, dich an dieses Bild von dir allein in der verlassenen Halle heranzutasten, an das Gefühl zu dem Bild. Es gelingt dir nicht. Ohne Jacques gibt es keine Flucht, keinen Plan, keinen Grund weiterzugehen oder stehen zu bleiben. Ohne Jacques gibt es bloß Delirium ohne Applaus.
    Bevor du um die letzte Ecke biegst, hältst du inne. Du schließt die Augen, streckst deine Fühler aus; du hörst nicht, du schaust nicht, du riechst nicht, du tastest dich vor, in dem Gewebe dieser Welt, fühlst durch die Schichten, die Wände, bis du etwas erkennst, ein Pulsieren, eine Wärme, ein geheimes, deinen Augen noch verborgenes Zentrum. Du läufst weiter um die Ecke, und es ist, wie du gewusst hast, dass es sein würde: Neben Blanche Wittmans Bild wartet er auf dich.
    Du siehst gleich, dass er alles falsch macht. Er ist gar kein fester Mensch mehr mit tatsächlichen Umrissen, sondern ein unstet flimmerndes Nebelgebilde. Du schaust ihn an, aber er schaut

Weitere Kostenlose Bücher