Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
vor kurzem glaubten die Ärzte, die Schwestern und César auch, keine könne dieselbe Wirkung erzielen wie du. Auch du dachtest das. Im vorigen Monat aber ist eine neue Patientin an die Salpêtrière gekommen. Ihr Name lautet Blanche Wittman, und obwohl sie kleiner ist als du, wirkt sie ein gutes Stück größer. Sie hält sich stets sehr gerade, ihr Haar ist wie gesponnenes Gold, ihre Lippen sind blutrot. In einem gläsernen Sarg liegt sie allerdings nicht, stolziert stattdessen den halben Tag umher. Blanche, das braucht dir keiner der Ärzte zu erklären, ist alles, was du nicht bist. Sie zappelt nicht herum wie du. Sie redet nicht laut und schnell wie du. Sie sitzt still, spricht leise und schlägt die Augen nieder. Darauf aber fällst du nicht herein: Sie ist keine Prinzessin, keine Dame. Eines der anderen Mädchen hat dir erzählt, dass sie als Näherin arbeitete, bevor sie hierherkam. Erst die Salpêtrière hat sie veredelt und zu einem Kunstwerk gemacht. César und die anderen können sich nicht sattsehen an ihr. Du hast deine hundert Fotos, aber sie hat schon bald ein eigenes Gemälde. Blanche in Weiß, fallend oder eher: sinkend. Bestaunt, getragen und gerettet. Dich auf deinen Fotos, zähnebleckend, möchte niemand retten, dich möchte man durch Gitterstäbe bestaunen. Du aber wolltest ja ohnehin nie gerettet werden. Du bist hier, um zu retten.
Noch kannst du dir nicht sicher sein, was Blanches Ankunft für dich bedeutet. Es scheint aber, als sei durch ihr Auftauchen jene Veränderung besiegelt, die bereits vor einigen Wochen ihren Lauf nahm. Es ist wie an diesen Tagen, im Frühling oder Herbst, wenn das Wetter dir einen Streich spielt, sich in der einen Sekunde entschieden heiß oder kühl zeigt und in der nächsten alles zurücknimmt. Ohne Donnern, ohne Tusch ist die Welt eine andere. Du kannst deinen Finger noch nicht darauf legen. Begonnen hat es wohl in den Augen der Ärzte, die dich nicht länger ansehen wie ihr Lieblings-, sondern wie ihr Sorgen- und Problemkind. Auch Césars neue Seiten treten immer deutlicher zum Vorschein: Er schaut dich kaum noch an, sondern an dir vorbei und über dich hinweg.
Es kommt der Vormittag, an dem er dir die heilenden Hände auflegt und gar nicht erst versucht, in dich hineinzufühlen, dich zu erspüren. Als du dich sträubst, behauptest, keine Lust zu haben auf das Fotografieren und dass dir die Blitze den Schädel in Brand setzten, schüttelt César den Kopf und schaut den Assistenten an.
»Aber«, sagt César, »deine Krankheit ist auch nichts, worauf man Lust hat, sie kommt nicht, wie du es willst.«
»Bald bin ich nicht mehr hier«, kündigst du Jacques an. Dann erzählst du ihm von deinen Plänen, du quasselst und ratterst, deckst ihn mit Worten ein, aber Jacques lächelt wie einer, der es besser weiß. Er glaubt dir nicht; er hat sich hier eingerichtet wie in einem gewöhnlichen Leben und kann sich nicht vorstellen, dass irgendwer, sicher nicht du oder er, diesen Ort wieder verlassen wird. Als du siehst, wie er ganz zufrieden ist in seinem Gefängnis, da musst du dich auf deine Hände setzen, damit du nicht aufspringst. Mit deinem ganzen Gewicht drückst du die Finger, die Handteller auf den Sitz, und es gelingt dir gerade so, ihn nicht zu packen, zu schütteln und zu schreien: Das ist doch kein Zuhause hier. Ist doch nicht die Welt.
Aber mit der Welt musst du Jacques gar nicht kommen, von der Welt hat er bereits genug gesehen, die Welt ist eine zu schnelle Kutsche, die sich einem im toten Winkel nähert, und wenn sie einen erfasst, weiß man nicht einmal mehr, wo oben und unten ist.
»Ich bleibe jedenfalls nicht«, sagst du. »Hier ändert sich alles.« Tatsächlich scheint dir dieser Ort, dieses Gebäude mit allen, die es hält, wie ein kompliziertes Puzzle, eine Anordnung eng anliegender Plättchen. Verschiebt sich eines, verschieben sich auch alle anderen, nichts bleibt ohne unmittelbare Auswirkung: Blanche Wittman, der Arzt ohne Namen, sie drängen in die neue Mitte und schieben euch an den Rand. Hier ist kein Platz mehr für dich. Jacques muss es doch auch spüren, ein Ziehen in den Waden, in den Unterarmen und im Bauch.
»Ich kann aber nicht«, behauptet Jacques und verschränkt die Arme. Wie sollst du so jemanden durch diese Festung der Verrückten, zwischen patrouillierenden Schwestern und einem maskierten Arzt hindurchmanövrieren? Zwar bist du geschickt im Verschwinden, aber bisher ist es auch immer bloß um dich gegangen, du hast nicht einen
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