Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Fische wiederkommen würden. Aber sie kamen nicht zurück. Stattdessen gab es immer mehr Unfälle. Männer verschwanden über Nacht. Im ersten Frühjahr waren es bestimmt zwanzig.«
»Was habt ihr gedacht, was passiert sei?«
»Es gibt hier …« Er stockt. »Viele hatten ein Problem mit dem Trinken. Es war früher schon vorgekommen, dass Männer von den Klippen fielen, aber bald merkten wir, dass es zu viele waren, weit mehr als die üblichen Unfälle. Die Frauen glauben, dass die Männer geholt wurden. Es gab schon immer Legenden, Geschichten, die man sich erzählte. Irgendwann hat man sie vergessen oder vergessen wollen.«
»Und wovon handeln die Geschichten?«
»Von denen, die im Meer leben. Manche behaupten, ihr Blut sei blau und ihre Haut geschuppt. Man glaubt, dass sie aussehen wie wir, aber dass ihr Blut kalt ist, sie nichts essen und nichts trinken müssen und niemals frieren.«
»Und ihr fürchtet euch vor ihnen?«
»Es heißt auch, dass sie an Land kommen und die zu sich holen, die nicht vorsichtig genug sind.«
Milan, der zugehört und keine Miene verzogen hat, blinzelt. »Warum sollten sie?«
In den Geschichten wird diese Frage weder beantwortet noch aufgeworfen. Yann zuckt die Achseln.
»Um sie zu töten?«
Milan zieht eine Braue hoch. »Und warum sollten sie das wollen?«
Yann tastet nach dem Band und schweigt.
»Was habt ihr unternommen?«, fragt Milan nach einer Weile.
»Nichts. Wir wussten nicht, was. Niemand hatte etwas gesehen. Oder gehört.«
»Und dein Vater, er ist auch verschwunden?«, fragt Milan.
Yann nickt.
»Und es ist schlimm gewesen«, sagt Milan.
Yann streitet es weder ab, noch stimmt er Milan zu. Denn neben dem Schlüssel, um den niemand außer Milan weiß, trägt er noch ein weiteres Geheimnis bei sich: Er wollte nie Fischer sein, wollte nie gemeinsam mit dem Vater und später dann alleine raus aufs Meer fahren. Er wollte sich nie mit Netzen auskennen, und Fische ausnehmen wollte er auch nicht. Vor dem Kutter des Vaters hat es ihm gegraut, vor dem abendlichen Beisammensitzen, vor den Geschichten der Fischer und wie sie immer gleich blieben. Und unter diesem Geheimnis liegt ein weiteres: Als alles anders wurde, nach dem ersten Sturm, als die Fische verschwanden, da fühlte Yann sich leicht und frei. Und die Katastrophe war keine Katastrophe, sie war ein großes Glück.
»Mein Vater«, setzt Yann an und verstummt. In der Sekunde zwischen den Worten wälzt sich etwas um, und er kann die Stille hören, als hätte sie jemand gerade erst angestellt oder ihre Lautstärke aufgedreht. Sie drängt sich dicht an Yann und Milan, drückt sich gegen die Ohrmuscheln. Yann sieht an Milan vorbei und erblickt hinter ihm eine dunkle Gestalt, neben ihr springt ein Hund durch den Sand. Er will Milan packen, will ihn warnen, doch bringt er keinen Ton hervor. Milan neigt den Kopf, seine Augen rucken ein Stück nach rechts, ein Stück nach links, als könne er in den Raum hinter seinem Kopf blicken. Er scheint etwas zu sagen. Wahrscheinlich: Steh auf. Vermutlich: Los, komm. Als Yann sich nicht rührt, greift er ihn an den Armen, zieht ihn hoch und schleift ihn hinter sich her über den nassen Sand. Hundegebell verfolgt sie, jeden Moment, fürchtet Yann, wird er angesprungen und zu Boden geworfen werden. Er dreht sich nicht um, schaut nicht zurück, auch dann nicht, als sie den Weg zum Haus erreicht haben. Die kalte Luft brennt ihm in den Lungen. Als sie vor dem Haus ankommen, ist er außer Atem. Erst nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und den Riegel vorgeschoben haben, blickt Yann durch eines der Fenster. Der Strand und der Weg zum Haus sind verlassen. Von dem Touristen und seinem Hund ist nichts zu sehen.
*
Yann kann nicht schlafen. Er lauscht auf Helen, die durch die untere Etage läuft und alle Lichter löscht. Er ist sicher, dass Milan ebenfalls noch wach liegt.
»Mein Vater wäre nicht freiwillig gegangen«, sagt er plötzlich und so, als hätte Milan das Gegenteil behauptet. »Er hätte uns mitgenommen. Er hätte einen Brief geschrieben.«
»Es gibt verschiedene Arten zu verschwinden«, antwortet Milan.
»Weißt du, wo die Fischer jetzt sind?«, fragt Yann. Er glaubt, dass Milan den Kopf schüttelt, aber im Dunklen kann er nicht sicher sein.
»Aber du weißt, warum der Tourist hier ist«, sagt Yann.
Es raschelt, als Milan sich unter der Decke bewegt, sie glatt streicht, bevor er antwortet: »Vielleicht, um dich an etwas zu erinnern, das du vergessen hast.«
Yann
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