Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
bringen.
Als er das Gasthaus verlässt, weiß er, dass die Frauen sich nicht mehr lange gedulden werden. Vielleicht noch zwei, drei Tage, dann wird Milan eine Erklärung finden müssen: wie es möglich war, dass er von einem weit entfernten Ort in das fremde Meer geriet und sich an der Küste wiederfand.
Auf dem Weg zurück zum Haus begegnet Yann Carl und Ari. Vermutlich haben sie auf ihn gewartet, in Häusereingängen herumgelungert, bis sie ihn das Gasthaus verlassen sahen. Zunächst ist es nur Ari, die er erspäht, und er verlangsamt seine Schritte. Er hat keine Lust, mit ihr zu sprechen, mehr als nur keine Lust, es ist ein Widerwillen, so stark, dass er überlegt, zurückzulaufen und einen Umweg nach Hause zu nehmen. Gerade als er sich umdrehen will, hebt Ari die Hand und winkt.
Yann winkt zurück. Neben ihr macht er einen breitschultrigen Schatten aus, den er erst nach einigen Sekunden als Carl erkennt. Mit jedem Tag, der vergeht, sieht Carl weniger wie er selbst und mehr wie sein Vater aus. Ähnelt auch Yann seinem Vater? Er schaut auf seine Hände hinab. Lange, feingliedrige Finger, noch immer seine Hände, sie sind nicht rau und grob wie die Hände der Fischer. In Perthun unterscheiden sich die Jungen voneinander, die Alten aber sehen alle gleich aus. Wo und wann im Heranwachsen verliert man sich selbst? Vielleicht, denkt Yann, als er auf Carl und Ari zugeht, ist es nicht das Meer, das fremd geworden ist, vielleicht sind sie selbst es. Und womöglich ist niemand gegen seinen Willen in die Fluten gezerrt worden. Was, wenn die Väter nur ihre Plätze geräumt haben, auf dass die Kinder sie einnehmen? Vielleicht sind es nicht die Eltern, die verschwanden, sondern sie, Yann und Carl und Ari, und wie sie waren, und wie sie sich in verlassenen Häusern trafen und tranken und durch die Nacht tanzten und glaubten, dass sie Perthun einmal den Rücken kehren würden.
»Hast du kurz Zeit?«, fragt Carl.
»Wozu?«, fragt Yann, bemüht, eilig auszusehen.
»Wir wollen reden«, sagt Ari.
»Aber nicht hier«, sagt Carl.
»Was stimmt nicht mit hier?«, fragt Yann. Er deutet in die von Regenfäden durchzogene Luft, als gäbe es keinen besseren Ort für eine Unterhaltung.
»Komm mit uns in die Pension«, sagt Ari. »Du musst mit dem Touristen sprechen, hör dir wenigstens an, was er zu sagen hat.«
»Nein jetzt nicht. Mutter wartet. Ich habe versprochen, ihr mit dem Abendbrot zu helfen.« Und während er spricht, kommt ihm ein Gefühl, dass er nicht den fürchten muss, der aus dem Meer gekommen ist, sondern den, der vom Land her nach Perthun gereist ist. Eher, weiß er, würde er Milan folgen, bis in die Nordstadt und weiter, als auch nur ein Wort mit dem Mann zu wechseln, der seinen Namen für sich behält.
Carl verzieht den Mund.
»Bloß fünf Minuten«, sagt er. »Es ist ihm wichtig.«
»Wozu? Er kennt mich doch gar nicht.«
»Nein, aber deinen Freund, den kennt er. Er reist ihm schon seit ein paar Monaten nach. Die Küste entlang. Er hat uns erzählt, dass sie überall aus dem Meer kommen. Überall an der Küste ist es das Gleiche. Dort, wo sie auftauchen, verschwinden die Fischer. Es ist alles wahr, es sind nicht bloß Märchen.«
Yann nickt nicht und schüttelt nicht den Kopf. »Später«, sagt er. »Ich rede später mit ihm.«
»Am besten«, sagt Carl und geht einen Schritt auf Yann zu, »am besten, du bringst deinen Freund mit. Am besten, wir treffen uns alle zusammen. Der Tourist kann herausfinden, ob er aus dem fremden Meer kommt. Er sagt, man kann es leicht feststellen.«
Yann öffnet den Mund, schafft es aber bloß zu nicken. Als er sich an Carl vorbeidrängen will, hält der ihn zurück.
»Yann, wir warten nicht mehr lange. Ich weiß nicht, was er dir erzählt hat, warum du ihn schützt, aber wenn du ihn nicht herbringst, dann kommen wir und holen ihn. Wir finden heraus, was er ist. Und wenn er einer von ihnen ist, dann wird er uns sagen, was sie mit den Fischern gemacht haben.«
Yann macht sich los. Er entfernt sich langsam und ohne sich noch einmal nach Carl und Ari umzudrehen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, versteht er, Milan sollte nicht länger in Perthun bleiben als notwendig.
*
In der vierten Nacht beginnt Milan zu frieren. Die Perthuner Kälte hat seinen Körper eingeholt und durchdrungen. Während Milan fröstelt und zittert, beobachtet Yann den Touristen durch das Fenster. Der Fremde verbringt die Nachmittage damit, den Strand entlangzulaufen. Er wandert auf geheimen Routen,
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