Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
überlegt. »Ich habe nichts vergessen.«
»Vielleicht hast du vergessen, dass du nicht in Perthun bleiben musst. Vielleicht soll er dich bloß daran erinnern, dass es Zeit für dich ist zu gehen.«
»Aber meine Mutter, Carl, Ari …«
»Du gehörst nicht hierher«, sagt Milan.
Darauf, weiß Yann, sollte er mit einem einfachen Wort antworten können. Nur kann er sich weder für ein »Ja« noch für ein »Doch« entscheiden, und was er stattdessen sagt, überrascht ihn selbst. »An dem Morgen, als sie dich fanden, habe ich geträumt. Erinnern kann ich mich bloß an Schnee, an graue Tiere, Hunde vielleicht, ich bin mir nicht sicher. Und ich glaube, ich glaube, ich habe von dir geträumt.«
Milan antwortet nicht, und sie hören dem Regen zu, der auf das Meer, auf das Haus, auf Perthun niedergeht. Wenn es nie mehr aufhört zu regnen, denkt Yann, wird Perthun bald untergehen, und sollten wir trotzdem bleiben, würden uns Kiemen wachsen, und wir könnten uns nur noch durch Zeichensprache verständigen.
In dieser Nacht träumt Yann von einem leuchtenden Rad und einem Zelt im Schnee. Er träumt davon, unterzugehen, und davon, wie ihm jemand nachtaucht, wie jemand nach seiner Hand greift und ihn mit sich hinaufzieht.
Als er am nächsten Morgen aufwacht, ist Milan verschwunden.
*
So hatte Yann es sich vorgestellt:
Er würde Milan wecken. Sie würden das Zimmer verlassen, den Flur und das Haus, sie würden mit niemandem sprechen, sie würden nichts erklären. Um den Regen würden sie sich nicht kümmern, die Kälte könnte ihnen nichts anhaben, der Wind auch nicht. Yann würde nicht an Carl denken, nicht an Ari, nicht an die Mutter. Er würde überhaupt nichts denken, sich von Milan an die Hand nehmen, sich über Sand, Pflaster und salziges Wasser führen lassen. Schneller und schneller würden sie laufen, bis sie ein Dorf namens Trouwen erreicht hätten.
Yann, der an seinem Schreibtisch gesessen und ratlos ins Nichts gestarrt hat, schreckt auf, als es an seiner Tür klopft. Noch bevor er antworten oder die Tür öffnen kann, stößt Carl sie auf und betritt, dicht gefolgt von Ari, das Zimmer. »Wo ist er?«, fragt Carl und sieht sich übertrieben wachsam in dem Zimmer um.
Yann reibt sich die Augen. Als er nicht antwortet, tritt Carl einen Schritt auf ihn zu und fährt mit der Hand durch die Luft vor Yanns Kopf. »Bist du da?«, fragt er.
Yann blinzelt. Es kommt ihm nicht so vor, als ob er da wäre.
»Hast du ihn versteckt?«, fragt Carl.
»Wo denn?«
Carl wirft sich zu Boden und späht unter Yanns Bett.
»Er ist nicht hier«, sagt Ari vom Türrahmen aus. Während sie spricht, schaut sie nicht Yann an, sondern aus dem Fenster.
»Wir haben uns umgehört«, sagt Carl und richtet sich langsam auf. »Der Tourist hat recht gehabt. Niemand an der ganzen Küste hat jemals von einem Ort namens Trouwen gehört. Wir wollen mit deinem Freund sprechen. Nicht morgen und nicht übermorgen, sondern jetzt. Ari und ich sollen ihn nach unten bringen, und wir gehen nicht ohne ihn.«
»Und dann?«
»Der Tourist hat uns verraten, wie man herausfinden kann, ob er einer von ihnen ist. Sie brennen nicht, verstehst du, wenn man sie anzündet, dann fangen sie kein Feuer.«
Yann richtet sich auf.
»Ihr wollt ihn anzünden?«
»Nein.« Ari betritt den Raum. »So meint er das nicht. Wir wollen bloß schauen, was passiert. Wenn er tatsächlich Feuer fängt, löschen wir es wieder.«
»Er ist nicht hier«, sagt Yann. »Ihr könnt das ganze Haus durchsuchen. Heute Morgen war er verschwunden. Ich weiß nicht, wo er ist.«
Ari mustert Yann, dann schiebt sie sich an der Wand entlang und setzt sich auf die Schreibtischplatte, dicht vor ihn. Carl, der ihnen den Rücken zugewandt hat, bewegt die Finger auf der Fensterbank, als spiele er auf einem Klavier ohne Töne. Als Ari seinen Namen sagt, dreht er sich um. Sie wechseln einen Blick, und er verlässt wortlos das Zimmer.
»Er wird dich überreden, mit ihm zu gehen«, sagt Ari. »Er wird behaupten, er bringe dich in die Nordstadt, nur damit du mit ihm gehst. Sie können dich dazu bringen, dass du ihnen alles glaubst, ihnen vertraust.«
Yann betrachtet Aris Hand, die noch immer auf seinem Unterarm liegt. Er kann sie sehen, die Finger, alle zehn, und die blasse Haut und darunter blaue Adern. Gleichzeitig fühlt sie sich zu leicht, zu luftig an, so als wäre sie nur noch in Teilen da. Oder vielleicht, denkt er, bin ich es, der nur noch in Teilen da ist.
»Warum sind wir überhaupt noch
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