Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
hier?«, murmelt er. »Hier ist doch nichts mehr. Vielleicht verschwinden die Leute, weil niemand mehr hier sein sollte.« Er schaut Ari an. »Es gibt keinen Grund zu bleiben«, sagt er.
»Hier ist unser Zuhause.«
»Hier ist nur noch der Rest von etwas.«
»Hat er dir das erzählt?«
»Nein«, sagt Yann. Ja, denkt er. In etwa, aber wie soll er Ari erklären, was er selbst nicht versteht.
»Der Tourist –«, setzt Ari an, und Yann steht mit einem Ruck auf.
Wenn er Ari das Gefühl beschreiben könnte, das ihm durchs Rückgrat und bis in den Hinterkopf zieht, wenn er nur an den Touristen denkt. Aber wie immer, wenn er seiner Angst Worte überstülpen will, passen die Buchstaben nicht, schlackern wie viel zu große Kleider, und das, was er fühlt und denkt, schlüpft durch sie hindurch.
»Wahrscheinlich ist Milan gar nicht mehr in Perthun«, sagt er mit gedämpfter Stimme und lügt: Er ist sicher, dass Milan Perthun noch nicht verlassen hat. Denn noch immer steht er selbst, steht ganz Perthun unter Spannung, jedes einzelne Haus, jeder einzelne Mensch, die Mutter und Carl und Ari und er selbst, jeder Stein, jede Möwe, jedes Sandkorn sind miteinander verbunden, wie durch surrende, flirrende Drähte. Erst wenn Milan verschwindet, wird sich das Netz auflösen, sie alle freigeben und zurückfallen lassen in die alte Trägheit.
Ari steht auf. Bevor sie das Zimmer verlässt, sieht sie ihn an. So wie sie einen Fremden ansehen würde, dem nicht zu trauen ist.
Nachdem Ari gegangen ist, räumt Yann Milans Nachtlager zusammen. Als er das Kopfkissen anhebt, fällt ein Zettel aus dem Bezug. Er faltet ihn auseinander, sieht das Weiß des Papiers und in zarter, feingeschwungener Schrift die Worte: »Heute Nacht. Am Strand. Halb drei.«
Schnell faltet er den Zettel wieder zusammen und lässt ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Wie kommt es, fragt er sich, dass er sich ein Geheimnis nach dem nächsten einfängt? Er trägt sie um den Hals, in der Hosentasche und im Herzen.
Der Tag entfaltet sich wie eine Ziehharmonika, wird doppelt so lang wie all die vorangegangenen, weil sich zwischen den Stunden zusätzliche, geheime Stunden aufklappen. Der Tourist dreht seine Runden durch Perthun in kurzen Abständen, und da Yann ihm nicht begegnen will, bleibt er im Haus.
Viel zu tun gibt es nicht. Er sitzt am Esstisch und schält Kartoffeln, sitzt auf den Treppen und tastet nach dem Zettel in seiner Hose, sitzt am Fenster und beobachtet mit dem Fernglas des Vaters den Strand. Als es dunkel wird, kann er nicht länger still sitzen. Wieder und wieder öffnet er den Schrank, um sich zu vergewissern, dass er noch da ist: der Koffer, den er für die Nordstadt gepackt hat.
Am frühen Abend verlässt Helen das Haus, um ins Dorf zu gehen. Yann schaut ihr nach, wie sie den Weg hinunter zum Strand läuft. Zum wiederholten Mal an diesem Tag denkt er: Es wird noch genug Zeit sein für eine Verabschiedung, für eine Erklärung oder zumindest den Versuch.
Er legt sich in sein Bett, starrt an die Decke und fragt sich, wie es sich anfühlen wird, alles zurückzulassen – das Gasthaus, in dem der Vater Karten spielte, den Strand, an dem ihm die Mutter vor vielen Jahren das Meer und das Land und die Welt erklärte, die Klippen, auf denen er einmal zwischen Ari und Carl lag und meinte, hören zu können, wie ihre Herzen im gleichen Takt schlugen.
Über das Nachdenken und Erinnern muss er eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnet, stehen Carl, Ari und seine Mutter im Zimmer. Im Türrahmen lehnt Nora, hinter ihr erkennt er Anna.
»Was …?«, setzt er an, da unterbricht ihn Carl.
»Wir wissen, dass er zurückkommen wird. Dass du glaubst, er bringt dich in die Nordstadt.«
Yann blickt von Carl zu Helen, von Helen zu Ari und von Ari zu Nora. Sie steht in der Tür und versperrt so den einzig möglichen Fluchtweg. Die fünf schauen Yann an. Sie warten. Auf eine Verteidigung, eine Ausrede, eine Lüge.
»Ich verstehe nicht, was –«, beginnt er und wird erneut von Carl unterbrochen.
»Der Tourist sagt, dein Freund kommt heute oder morgen Nacht zurück. Du kannst nicht mehr klar denken, du verstehst nicht, was hier geschieht. Und darum passen wir auf, dass du hierbleibst.«
Yann rutscht auf seinem Bett zurück, lehnt den Kopf gegen die Wand. Seine Gedanken kleben zusammen; er braucht viel zu lange, um das Gesagte zu verstehen: Sie werden ihn nicht gehen lassen. Milan wird warten, eine Stunde, vielleicht auch zwei. Dann wird er alleine in
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