Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
lautlosen Anweisungen folgend, durch die Brandung. Neben ihm hechtet der Wolfshund durch den Sand.
»Meine Freunde sagen, dass er wegen dir hier ist. Dass er dir gefolgt ist«, sagt Yann zu Milan und schaut weiter aus dem Fenster.
»Wir sind aus demselben Grund hier.«
»Also kannst du dich wieder erinnern, an die Zeit bevor du hier angespült wurdest? Wie du hierhergekommen bist?«, fragt Yann.
Statt zu antworten, blinzelt Milan kurz. Und dieses Blinzeln ist ein Eingeständnis: Sie wissen beide, dass Milan nichts vergessen hat, sich also auch nicht an etwas erinnern muss.
Yann legt die Hände an die Fensterscheibe, doch das Glas ist so kalt, dass er sie schnell wieder zurückzieht und in den Ärmeln seines Pullovers verschwinden lässt. Er dreht sich zu Milan um. »Carl und Ari wollten, dass ich mit dem Touristen rede, aber ich …« Er bricht ab.
»Du darfst dich nicht mit ihm treffen«, sagt Milan. »Kannst du mir das versprechen?«
Plötzlich steht er neben Yann am Fenster. Nicht zum ersten Mal erschrickt Yann darüber, wie schnell und lautlos Milan sich bewegt. Er will ihn weiter zum Touristen befragen, weiß aber bereits, dass er keine Antworten bekommen wird. »Wenn du mir versprichst«, sagt er stattdessen, »dass du mich fortbringst. Raus aus Perthun. In die Nordstadt oder … Egal, wohin du gehst, du musst mich mitnehmen. Du darfst nicht ohne mich gehen.«
Milan nickt. Stumm lauschen sie dem Regen, der nachdrücklich an die Scheiben klopft.
Als sie später am Nachmittag beschließen, zum Strand zu gehen, hat der Regen nachgelassen. Obwohl es noch immer nieselt, ist der Tag für Perthuner Verhältnisse mild. Sie laufen bis zu der Stelle, an der Milan angespült wurde. Die Frauen haben sie mit einem Kreuz markiert, so, als wäre Milan hier nicht aufgetaucht, sondern gestorben oder begraben. Bis auf das Meer und den Wind ist es still. Milan blickt auf die Wellen. »Warum das Kreuz?«, fragt er, ohne den Kopf zu drehen. Der Wind fährt ihm durchs Haar, zieht Strähnen unter seiner Kapuze hervor.
»Damit sie nicht vergessen, wo sie dich gefunden haben. Sie wissen gern –«, setzt Yann an und hält inne. Er betrachtet das Kreuz. Erinnert sich. An einen Nachmittag, der ihm nicht nur Jahre, sondern ein ganzes Leben zurückzuliegen scheint. Einen Nachmittag, als die Eltern noch die Eltern waren. Als es noch zwei von ihnen gab, als er noch alleine zum Strand gehen durfte. Im Dorf waren zwar bereits erste Gerüchte aufgekommen, Annas Mann war eines Nachts verschwunden und kurz darauf Aris Bruder, doch glaubte man noch an Zufälle, und das Meer war bloß das Meer, und es gab nichts zu befürchten, es gab keine Gefahr.
Yann kniet sich neben das Kreuz und streicht mit den Fingern über das nasse Holz. »Ich wusste nicht, dass du hier angespült wurdest«, sagt er. »Hier an dieser Stelle habe ich einmal etwas gefunden – aber das ist lange her.«
Schon vor Jahren hat er sich abgewöhnt, nach dem Schlüssel zu greifen, wenn er an ihn denkt. In den ersten Monaten nach seinem Fund konnte er die Hände nicht von ihm lassen, und seine Finger tasteten wie von selbst nach dem Band, das er unter Hemd und Pullover verborgen trug. In der letzten Sekunde aber entschied er sich stets dagegen, den Schlüssel seinen Eltern, Carl oder Ari zu zeigen. Er schloss den Mund, behielt die Hände in den Taschen und spürte den Druck, die Schwere des fremden Gegenstandes auf seiner Brust; bis er ihn eines Tages nicht mehr spürte und der Schlüssel wie seine Knochen, sein Herz, seine Lungen Teil seines Körpers geworden war.
Nun aber geschieht es wie von selbst, dass er das Band unter dem Hemd hervor und über den Kopf zieht. Er lässt es zwischen Milan und sich vor- und zurückpendeln.
»Ist das deiner?«, fragt er Milan.
Milan schüttelt den Kopf, seine Hände liegen auf den Knien. Er macht keine Anstalten, den Schlüssel an sich zu nehmen.
»Nein«, sagt er.
Yann streift sich das Band wieder über. »Ich weiß nicht, wofür er ist«, sagt er. »Was man damit aufschließt.«
Milan nickt. »Bestimmt wirst du es bald wissen.«
Yann schaut den Strand hinunter. »Vor zwei Jahren«, beginnt er unvermittelt zu sprechen, »verschwanden die Fische. Es hatte den ganzen Herbst gestürmt, und der Winter war so kalt wie nie zuvor. Als die Fische ausblieben, mussten die Fischer weiter raus aufs Meer, aber weil die Stürme zunahmen, war das bald nicht mehr möglich. Mein Vater glaubte, es sei bloß eine schlechte Zeit und dass die
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