Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
vertraute Einheiten bildet wie »Haus«, »Strand« und »Fremder«, brauchen die Frauen stets einige Sekunden, um ihn zu verstehen, so als müssten sie das Gehörte zunächst in die ihnen bekannte Sprache übersetzen.
»Ich gehe schlafen«, sagt Helen.
Sie steht auf und wirft Milan einen letzten misstrauischen Blick zu. Yann und Milan warten, bis sie ihren Teller abgeräumt hat, die Treppe hinauf zum Schlafzimmer gestiegen ist und die Tür hinter sich geschlossen hat.
»Kennst du den Touristen?«, fragt Yann, nachdem sie noch einige Minuten gesessen haben.
»Wir sind uns ein paarmal begegnet. Er reist mir nach, könnte man sagen. Aber in der Regel gehen wir uns aus dem Weg. Wir haben« – Milan lässt die Gabel über den Teller kratzen – »unterschiedliche Interessen. Ich glaube, zuletzt sind wir einander in der Nordstadt begegnet.«
Yanns Herz macht einen Sprung. »Du kommst aus der Nordstadt?«
»Nein, aber ich bin ein paarmal dort gewesen.«
Die Nordstadt scheint Yann so weit von Perthun entfernt, dass er sie sich wie die äußerste Begrenzung der Welt vorstellt; an Länder, die noch hinter ihr liegen sollen, kann er nicht recht glauben. Es war die Nordstadt, an die er dachte, als er den Koffer packte, die Nordstadt, die ihn den Koffer auch gleich wieder schließen ließ. Denn was weiß Yann schon über diesen Ort, außer dass er so viel größer ist als Perthun und die Menschen dort schnell und hart sprechen, sodass man sie kaum versteht.
»Und – wirst du in die Nordstadt zurückgehen?«, fragt Yann.
Milan legt Gabel und Messer auf den halbleeren Teller.
»Wenn du gerne dorthin möchtest«, sagt er.
Yann starrt auf das Besteck und seine restlichen Kartoffeln.
»Wenn ich gerne dorthin möchte?«
Milan kräuselt die Lippen. Es ist die Andeutung eines Lächelns, die Mundwinkel aber bleiben in der Schwebe.
»Du würdest mich mitnehmen?«, fragt Yann. »Du würdest mich mit in die Nordstadt nehmen?«
Milan lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Darum bin ich doch hier«, sagt er.
Es ist dunkel im Raum und auch in der Welt hinter den Scheiben. Perthun stemmt sich nur mit wenigen Lichtern gegen die Nacht.
»Ihr habt alle so viel Angst«, sagt Milan, der neben Yann am Fenster steht. Vorsichtig klopft er gegen die Scheibe.
Yann nickt. Die Angst ist bis in Perthuns Boden gesickert, bis ins Grundwasser. Er betrachtet den Regen, der in feinen Fäden hinabgeht.
An diesem Abend liegt er lange wach. Er horcht ins Dunkel, horcht auf Milan, der wie aufgebahrt auf dem Rücken liegt, sich nicht von einer Seite auf die andere dreht, im Schlaf nicht murmelt und nicht flüstert. Wovon träumt jemand wie Milan?, fragt sich Yann und schläft über dieser Frage ein.
*
Obwohl Milan keine äußeren Verletzungen aufweist, ihn das Meer auf den ersten Blick unbeschadet ausgespuckt hat, scheint er sich von einer inneren Erschütterung erholen zu müssen. Die ersten Tage im Haus an den Klippen schläft er fast ununterbrochen. Sein Schlaf ist kein Schlaf, wie Yann ihn kennt. Darum wacht er an Milans Bett, während der sich an einen fernen Ort zurückzieht. Erst wenn kleine Zeichen von seiner Rückkehr künden – seine Lider flattern, ein Finger zuckt –, rückt Yann ab, gibt vor, aus dem Fenster geschaut oder etwas gelesen zu haben.
Wenn Milan wach ist, bewegt er sich wenig, spricht noch weniger, isst kaum. Er ist ein stiller, ein kaum vorhandener Gast. Trotzdem vergisst Helen ihn keine Sekunde. »Wie lange bleibt er noch?«, fragt sie Yann jeden Morgen, jeden Abend, manchmal fragt sie ihn auch mittags.
»Bis nach Trouwen ist es zu weit, und er ist zu krank. Und er weiß nicht, wo er zuletzt war, ob auf einem Boot oder in der Nordstadt, wohin soll er gehen?«
Helen verschränkt die Arme. Es interessiert sie nicht, ob der Mann aus dem Meer weiß, wohin er gehen soll. Solange er den Weg zur Tür findet.
»Du musst mit den anderen reden«, sagt sie zu Yann.
Sie hat es ihm einmal gesagt, zweimal, dreimal. Erst als sie es ein viertes Mal sagt – du musst –, geht Yann ins Dorf, um mit den Frauen zu reden.
»Er weiß noch immer nicht, wie er hierhergekommen ist. An die letzten Monate kann er sich nicht erinnern. Im Moment ist er ohnehin noch zu schwach, um das Haus zu verlassen«, sagt er, als er im Gasthaus steht.
Die Frauen nicken.
»Vielleicht«, sagt Nora, »ist es besser, wenn wir mit ihm sprechen.«
»Bald«, sagt Yann, auch wenn er nicht eine Sekunde daran denkt, Milan tatsächlich ins Dorf zu
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