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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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die Nordstadt aufbrechen. Dort wird er Perthun vergessen und mit Perthun Yann.
    Und schon ist Yann auf den Beinen, springt auf und will an Carl vorbei, raus aus dem Zimmer und dem Haus und zum Strand. Doch Carl fängt ihn ab. Nora packt Yanns rechten Arm, Anna seinen linken, und zu dritt ziehen sie ihn zurück zum Bett.
    »Halt still«, sagt Helen, und weil er nicht stillhält, wiederholt sie die Worte, spricht sie wieder und wieder, bis sie zu einem Singsang werden. Stillhalten, stillhalten, stillhalten. Halte die Stille, die Stille hält dich. Helen streicht ihm über die Stirn.
    Und Yann hört auf, sich zu winden, überlässt sich Carls Schraubstockgriff. Carl lässt ihn zwar los, bleibt aber wachsam, bereit, jederzeit wieder zuzudrücken.
    »Du musst uns sagen, wo er ist«, sagt Ari. »Der Tourist kennt sich aus mit ihnen. Er sagt, dass sich die Zeiten geändert haben, es werden jetzt immer mehr von ihnen an Land kommen. Manche von ihnen wurden sogar in der Nordstadt gesehen. Und es hilft bloß eins gegen sie. Wir müssen sie anzünden.«
    Yann schaut stumm zu ihnen auf. Ari setzt sich neben ihn, nimmt seine Hand und drückt sie, als wäre er ein Kranker. Yann dreht den Kopf zur Seite. »Das stimmt nicht«, sagt er. »Wieso glaubt ihr ihm überhaupt? Er hat doch von Anfang an gelogen. Er ist nicht einmal ein Tourist.«
    »Nein.« Carl nickt. »Als er hierhergekommen ist, da wusste er nicht, ob sie nicht schon längst hier sind. Jeder von uns hätte einer von ihnen sein können. Er musste vorsichtig sein. Aber warum sollte er lügen, wenn es um sie geht?«
    Yann verzieht das Gesicht. Er glaubt nicht, dass es ihm, Carl, Ari oder irgendjemandem aus Perthun möglich ist, zu verstehen, warum der Tourist tut, was er tut, wie er denkt, wie er fühlt, ob er fühlt.
    »Er lügt«, behauptet er bestimmt.
    Die fünf blicken ratlos auf ihn hinab.
    Nachdem sie sein Zimmer verlassen haben, verschließen sie die Tür. Yann kann hören, wie sich der Schlüssel dreht. Trotzdem rüttelt er an der Klinke. Er wirft sich gegen das Holz, bis seine Schulter schmerzt, dann ruft er nach ihnen. Von unten dringen ihre Stimmen zu ihm hinauf, aber niemand antwortet. Auf leises Gemurmel folgt das Geräusch der Haustür, die ins Schloss fällt. Er läuft zum Fenster und sieht Carl, Nora und Anna auf dem Weg hinunter ins Dorf und zum Touristen. Helen und Ari müssen im Haus geblieben sein.
    Yann lehnt die Stirn gegen die Scheibe. Wenn das Haus nicht an einem Abhang stehen und sein Fenster nicht zur abschüssigen Seite zeigen würde, spränge er. So aber bräche er sich beim Sprung wahrscheinlich ein Bein und würde es nicht hinunter zum Strand, erst recht nicht bis in die Nordstadt schaffen. Er dreht sich um, starrt ins Zimmer und stellt sich vor, wie die Zeit verrinnt, wie mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug Sekunden verstreichen. Erneut wirft er sich gegen die Tür. Einen Moment verstummen die Stimmen unten im Haus, dann setzen sie wieder ein. Die Schmerzen in Yanns Schulter lassen es ihm schwindelig werden, und plötzlich geben seine Beine nach, er geht in die Knie, kippt zur Seite und auf den weichen Teppich. Unter seiner Haut brennt es, als bissen sich unzählige kleine Tiere ihren Weg hinaus, doch was schließlich aus ihm hervorbricht, ist kein Tier, sondern ein Schrei. Yann heult, nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Hund, ein Wolf heulen würde. Er heult an gegen den Regen draußen, die Stille im Zimmer, und gegen die Vorstellung von Milan am Strand. Er heult, bis er heiser wird, dann liegt er stumm; den linken Arm von sich gestreckt, starrt er auf das Muster des Teppichs. Das Band um seinen Hals schneidet ihm in die Haut, und er dreht sich auf den Rücken. Nun liegt ihm der Schlüssel schwer auf der Brust. Mit einem Ruck setzt er sich auf, zieht das Band über den Kopf und betrachtet den Schlüssel.
    Das ergibt keinen Sinn denkt er. Und weiter, dass er es zumindest versuchen kann. Und weiter, dass kein Grund besteht, weil es nun einmal unmöglich ist. Und weiter und zu guter Letzt, dass er schließlich nichts zu verlieren hat.
    Schwerfällig steht er auf und läuft, den Schlüssel in der Faust, zur Tür. Und obwohl es keinen Grund gibt, warum er passen sollte, kniet Yann sich vor die Tür, schließt die Augen und steckt ihn in das Schloss. Er spürt, wie der Schlüssel Halt und zu überwindenden Widerstand findet. Mit leerem Kopf dreht Yann den Schlüssel, einmal, zweimal, dreimal. Es klickt, und Yann drückt die Klinke nach

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