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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Steinherzen sterben ließ, ihn im buchstäblichen Sinne »kaltmachte«, war die Plötzlichkeit seines Sturzes. Die Firma war seit 1881 in drei Generationen mit viel Zeitaufwand aufgebaut worden. Eine Fehlspekulation von 300 Millionen Euro, eine Wette, hätte sie ausgehalten. Man vergleicht die Aktivseite und die Passivseite einer Bilanz. Hinzu kommen aber die Aktivseite und die Passivseite der investierten Lebenszeit. Hinzuzurechnen ist der gute Wille. In dieser Hinsicht war ein Zusammenbruch innerhalb von drei Monaten ein »unwirkliches Phänomen«.
    Wieso aß er überhaupt noch? Wieso schlief er in den Nächten dieser unnützen Feiertage? An einem bestimmten Punkt des Unglücks angekommen, geht es nur noch um die Frage, wer es beendet.
    In den Wetterberichten des Tages war die Rede von einem plötzlichen Schneeeinbruch in der Bundesrepublik mit Verkehrschaos in Nordrhein-Westfalen. Dort, wo der Mann in Richtung seines Ziels voranschritt, sah er nur kalte Nässe, ein Durchschnittswetter.
Warten am letzten Tag im Advent
    26 Auslandsflüge konnten im Schneesturm über New York am Nachmittag des 24. Dezember 2010 noch auf einem der drei New Yorker Flughäfen landen. Eine der Maschinen fuhr am Ende ihrer Fahrt in einen lockeren Wall aufgehäuften Schnees hinein, kam dadurch auf der an sich rutschigen Fläche noch zum Stillstand. In diesem Flugzeug hatte Fred Bollwieser, der bekannte Kunstkritiker aus Tirol, noch einen Platz gefunden, erpicht darauf, seine Geliebte in deren Appartement in Greenwich Village zum Fest zu überraschen. Sozusagen als Geschenkartikel in Person.
    Für die Entladung der gestrandeten Maschine stand jedoch kein ANLEGER zur Verfügung. Diese Konstruktionen, welche die Realität der Flugzeuge mit der Wirklichkeit des Flughafens verbinden, waren durch den Schnee zugeschüttet, die fernlenkbaren Scharniere eingefroren. Es hatte sich aber auch eine Art von PANISCHEM PASSIVISMUS der Flughafenbehörden bemächtigt. Die Techniker waren am Frühnachmittag, soweit möglich, zu ihren Familien entlassen worden, um die gedoppelten Feiertags- und Nachttarife zu Heiligabend zu sparen. Die aussichtslose Gesamtlage des Flugfeldes lähmte die Gemüter. Während einige der Disponenten noch nach Chancen für improvisierte Ersatzflüge und Umleitungen für wartende Passagiere fahndeten (nach Kanada sollte es auf Flugplätzen nördlich von New York noch Möglichkeiten geben), grübelten andere über der GESAMTSCHADENSRECHNUNG und die dringend notwendige Versorgung der beiden einzigen Apotheken der Flughafenstadt mit Arzneimitteln.
    Die zur Untätigkeit verurteilte Besatzung des Towers hätte an die Cockpits der auf dem Gelände verstreuten noch gelandeten Maschinen Verhaltensmaßregeln übermitteln müssen. Das geschah nicht. Sie sollten warten, die Passagiere, die Besatzungen. Auch hielten alle Beteiligten die Wartephase, bis die ANLEGER wieder empfangsbereit wären, für eine geringe Größe.
    Seit elf Stunden saßen die Fluggäste jetzt schon in der Heiligen Nacht auf ihren Sitzen. Atembare Luft, elektrisches Licht, Heizung knapp. Gegenüber der Scheune in Bethlehem erschien es luxuriös, daß einige Male noch in der Nacht die Triebwerke angestellt wurden, um das Betriebssystem aufzuladen. Um vier Uhr früh entschied der Kommandant der Maschine, die überfüllten Toilettenbehälter in den Schnee auszuleeren. Nur geringen Druck vermochte die Entleerungsmasse auf die vor den Öffnungen lagernde Masse des Gefrorenen auszuüben, so daß die übelriechende (weil durch Desinfektionsmittel versetzte) Substanz nach oben drang in die Toilettenräume.
    Da die auf der verschneiten Landewüste parkenden Menschen zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußten, daß sie nach weiteren elf Stunden befreit sein würden, ergriff viele von ihnen Panik. In den Verhaltensrichtlinien für einen solchen Fall, die hätten ausgearbeitet sein müssen, aber nicht ausgearbeitet waren, wäre unter Punkt 17 vorgeschlagen worden, daß in der Reihenfolge der mit geraden und der mit ungeraden Zahlen bezeichneten Sitze, beginnend mit der Zahl 3 (da 1 und 2 den Stewardessen zugeteilt sind), die Passagiere auf dem Gang einen je zweiminütigen Marsch durchführen sollten, um Sinne und Muskeln zu betätigen, so wie Gefängnisinsassen die Chance eines Rundgangs täglich zugebilligt wird, damit es nicht zu Aufständen kommt.
    Nur daß die Handys in den ersten Stunden und verstärkt, als feststand, daß sie, hier gelandet, endgültig festsaßen, zwitscherten und

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