Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Einzelheiten aus Beuys’ Darstellung. Der Status eines Krimtataren und der eines Luftwaffensoldaten, dem sein Kriegsfahrzeug zerbrach, sind verwandt; beide können als enteignet gelten, beide wurden durch behördlichen Akt zuvor an die Grenze ihrer Existenz geführt. Den Tataren als den ursprünglichen Eigentümern der Krim waren die Wandergebiete eingeschränkt, einige ihrer Clans waren in den Osten Rußlands umgesiedelt worden. Sie waren nach dem deutschen Angriff in Gruppen in ihr Heimatgelände eingesickert. Sie existierten »zwischen allen Fronten«. Den Deutschen schien dies so unerklärlich wie den sowjetischen Wiedereroberern. Nicht einmal dem Sultan, zu dessen Reich die Krim zweihundert Jahre früher gehörte, hätten sie gehorcht. Sie waren Glücksjäger, so wie Beuys, der – ohne der Schmied seiner Rettung zu sein – glücklich fiel und, von Räubern aufgesammelt, in die Raubgesellschaft des Großdeutschen Reiches neu eingegliedert wurde. Der Sachverhalt rechtfertigt jede Legende.
Der Tod des Aufklärers Malesherbes
Malesherbes, einer der Verteidiger im Prozeß gegen den König vor dem Konvent, redete den König, seinen Mandanten, mit »Sire« an. Wer gibt Ihnen die Erlaubnis dazu? fragte ihn ein Mitglied des Konvents. Die Lebensverachtung, antwortete Malesherbes.
Er stand unter dem Schutz der großen Toten des 18. Jahrhunderts. Was hätte Rousseau gesagt bei der Mitteilung, daß seine unverständigen Schüler diesen wohlwollenden Kritiker, den Fürsprecher des Émile , töten würden? 14 Ohne Malesherbes wäre weder der Émile noch die Encyclopédie durch die Zensur gelangt.
Der Verfechter der Vernunft zeigte sich unbekümmert. Ein Gedanke an Auswanderung lag ihm fern. Im Dezember 1793 wurde er verhaftet. Der einzige Zeuge, der gegen ihn auftrat, war ein Diener, der ihm 1789 gesagt haben will, daß die Reben erfroren seien, worauf Malesherbes erwidert habe: »Um so besser! Wenn es keinen Wein gibt, werden unsere Köpfe klarer sein.« Der Patriot wollte sich nicht verteidigen und ging ruhig plaudernd zur Guillotine. 15
Eine letzte Frontfahrt
»Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten.«
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik
Der Minister für Rüstung und Bewaffnung des Reiches verschwieg später manches, was er tatsächlich gewußt hatte, und er wandte bereits vorher seine wache Wahrnehmung vom Elend der Zwangsarbeiter in den Betrieben ab, die ihm unterstanden. Bis zu den Hüften, schreibt seine Biographin Gitta Sereny, sehe ich ihn eingetaucht in den »Kältestrom seiner Zeit«.
In den letzten Tagen des Kriegs, in denen jeder sah, daß er nicht mehr lange dauern konnte, keiner aber wußte, wie man ihn rasch beendet, ließ sich der Minister auf Straßen nordwestlich der Reichshauptstadt nochmals in den Kessel fahren. Bekannt ist, daß er den Gefährten Hitler (den er einige Wochen zuvor noch durch Giftgas hatte töten wollen) vor dessen Tode besuchte. Der wahre und weniger bekannte Grund für diesen Berlinbesuch bestand aber darin, daß er seinen Freund Dr. med. Karl Brandt, den zu diesem Zeitpunkt durch ein Standgericht zum Tode verurteilten Reichsärzteführer, retten wollte. Er glaubte, der Freund befinde sich noch in der Gestapohaft in Berlin. Wie ein Schutzgeist begleitete der Minister den Weg dieses Kameraden mit Telefonaten bei allen zuständigen Behörden. Es gelang Albert Speer, den Todgeweihten später in Mürwik, wo die Reichsregierung residierte, in die Restzivilisation zurückzuführen. Dem Freunde gegenüber blieb der Minister nicht kalt.
Theodor W. Adorno bezeichnet Kälte als das Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität, als die Voraussetzung, ohne die Auschwitz nicht möglich gewesen wäre . Diese Identität ist aber in keiner bürgerlichen Gesellschaft prinzipiell, also rein herstellbar. Ein bürgerlicher Mensch wie Albert Speer lebt nicht längere Zeit auf der Höhe eines Prinzips; vielmehr bewegt er sich an einzelnen Tagen so, wie die Bürgerin Leonore ihren Mann Florestan rettet oder wie der Freund dem Tyrannen Dionys den Bürgen entreißt, den er ihm hinterließ.
In einer Diskussion im Frankfurter Volksbildungsheim, an der Rainer W. Fassbinder sich beteiligte, der mit seiner Meinung auf vehementen Widerspruch stieß, ging es um den ungleichmäßigen Charakter »des Kriegsverbrechers Albert Speer«, phasenweise verhielt er sich
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