Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
den religiösen Glauben, für die sich entwickelnde Moralität und Philosophie (die Einrichtung der Grenzen und Äcker des Geistes) und für den Bereich der Liebesbeziehungen. Diese Beziehungen gelten für Madame de La Fayette als unzähmbar. Sie werden in voneinander getrennte Bereiche zergliedert (die Ehen und ihre Pflichten anders reguliert als die Leidenschaften), sie werden abgelenkt und notfalls unterdrückt, d. h. dem Zugriff des neuen Selbstbewußtseins zunächst entzogen. Der Roman Die Prinzessin von Clèves stellt das Beziehungsnetz von Treue und Erotik erstmals als Zusammenhang auf den Prüfstand der öffentlichen Diskussion.
Es geht um eine der reichsten Erbinnen Frankreichs. »Eine Schönheit, die aller Augen auf sich zog.« Fräulein von Chartres, die später durch Heirat Prinzessin von Clèves wird, wurde von ihrer Mutter sorgsam erzogen. Diese Mutter, eine mächtige Frau, die in der Nähe des Königs eine politische Rolle spielt, zieht sich für viele Jahre vom Hofe zurück, um ihre Tochter für deren späteres Leben auszurüsten: als ein kostbares Gut, ein in Körper und Geist befestigtes Landgut, eine für andere Menschen brauchbare Gartenanlage.
Diese Achtsamkeit sich selbst und der charakterlichen Bildung ihrer Nachfolgerin gegenüber, der Tochter, entspricht der Auffassung des neuen Menschentyps, der seit 1600 hervortritt: des homo novus . Er entsteht in den Menschenlandschaften Norditaliens, Hollands, Südenglands und in Schottland, im sogenannten ›Grünen Gürtel‹ Europas (weil auf Landkarten so gefärbt). Die Gesellschaft Frankreichs antwortet auf dieses Neue mit vielstimmigen Kommentaren. Diese neuen Menschen gehen mit ihrem Leben achtsam um, sie geben sich, wie gesagt, neue Mühe.
Die Anfänge des neuen Denkens stürzen ab im Dreißigjährigen Krieg und in den barbarischen Kriegen Spaniens gegen die Niederlande. Aber zum Ende des 17. Jahrhunderts, zu der Zeit, in der Die Prinzessin von Clèves geschrieben wird, sind die geistigen Vorratshäuser voll von Vorräten an gutem Willen und Überzeugungskraft, aus denen sich Aufklärung zusammensetzen läßt. Die Prinzessin von Clèves ist der erste Roman praktischer Aufklärung, eine Fibel der praktischen Urteilskraft auf dem riskantesten Gebiet der Lebenserfahrung, dem Gebiet der ZÄRTLICHEN KRAFT .
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Amour propre oder die Eigenliebe ...
Das Fräulein von Chartres, wenig später Prinzessin von Clèves, ist zu Beginn des Romans 16 Jahre alt. Sie ist 18, wenn die Handlung endet. Sie ist eine »Kindfrau«.
Madame de Chartres, die Lehrmeisterin ihrer Tochter, sieht sehr wohl – mit der gleichen Beobachtungsgabe, mit welcher der Ehemann der Prinzessin zum gleichen Eindruck gelangt –, daß die Prinzessin in erotischen Fragen unerfahren ist. Dies hält die Mutter für eine Tugend. Es scheint ihr gefährlich, wenn die Tochter auf einem Gebiet Erfahrungen macht, Hautkontakt erfährt, auf dem die sichere Anwendung von Lebensregeln nicht garantiert werden kann. So soll die Prinzessin von Clèves ihr Lebensschiff selbstbewußt navigieren, auch ohne konkrete Erfahrung oder Kenntnis, worum es sich dabei handelt.
Im Zentrum dieser Liebesphilosophie steht für die französische Klassik die EIGENLIEBE ODER SELBSTACHTUNG , bezeichnet als amour propre . »Du sollst Achtung haben vor der Wildheit, dem Eigensinn, der Genauigkeit deiner Empfindungen.« Du sollst DIR SELBST VERTRAUEN . Aus der gleichen Selbstachtung und Eigenliebe mußt du ein Zentrum der ZUVERLÄSSIGKEIT bilden. Du mußt Verträge einhalten, Regulierungen beachten. Du lebst folglich in zwei Welten, einer, die von der Gesellschaft und deinen Vertragspartnern (z. B. deinem Ehemann) bestimmt wird, und einer, die dir individuell gehört. Du darfst aber in keiner der Welten unehrlich sein, Abstriche oder Kompromisse machen. Der kategorische Imperativ »Liebe dich selbst« ist unteilbar. So kann das allgemeine Gesetz des Verhaltens später einmal die Allgemeingültigkeit der Formulierung von Immanuel Kant beanspruchen. Es kann aber auch in der Absolutheit der Manon Lescaut formuliert werden: Was ich liebe, ist oberstes Gesetz. In allen solchen Fällen der Praxis bleibt es unteilbar. »Die Liebe findet ihre Entscheidungsmotive in sich selbst.« (Niklas Luhmann)
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Über einige Begriffe und Szenen des Romans
Eine der reichsten Erbinnen Frankreichs ...
Die Protagonisten des Romans sind außergewöhnliche Menschen. Sie sind reich, sie verfügen über direkte Kontakte zur Macht, und sie sind
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