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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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leise besprochen wurden, erinnerte daran, daß sich am Heiligen Abend die Christenheit zu einer großen Gemeinde vereinigt, wie es uns schon Hans Christian Andersen in seinem Märchen Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern nahebringt. Wie glücklich diejenigen, die an einem solchen Abend nicht zu den Genießenden, sondern zu den Organisatoren zählen. Auch wenn ihr Tun ein Chaos darstellt und kaum Grund für Stolz ist, sind sie doch in ihrer physischen Bewegung frei. Sie durcheilen die Gänge, das Lagezentrum, könnten in den Schneesturm hinausgehen, nachsehen, wie er sich anfühlt.
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Warum kann man zu keiner der auf dem Flugfeld verloren dastehenden Maschinen vordringen und mit einer fahrbaren Treppe oder auch nur mit Leitern der Feuerwehr die Passagiere einzeln ausladen und über einen Lattenweg, der sich über die Schneedecke erstreckt hätte, in die Zivilisation zurückführen?
Die professionellen Leitern lagen abgeschirmt in einem Silo, unprofessionelle Leitern, Seile oder Kräne gibt es auf einem modernen Flughafen des 21. Jahrhunderts nicht.
Durch einen Notausgang auf einer Rutsche die Leute in den Schnee hinausbefördern, wo ein Hubschrauber sie abholt?
Wo denken Sie hin! Die Konsistenz des Schnees ist zu fest, ihn wegzugraben, und zu locker, als daß ein Hubschrauber auf dieser Masse von Staub landen könnte. Vergleichen Sie diese Oberfläche mit einem Sumpf!
Und Schlitten?
Wo sollen die in einer hochspezialisierten modernen Anlage herkommen? Vielleicht wären Motorschlitten eine gute Idee gewesen. Dafür hatte es aber bis dahin nie eine Verwendung gegeben.
Unerwartete Bekehrung eines Heiden
    Nach einer schweren Geburt im Dorf, bei der ihm die »Hexe aus Dingelstedt« geholfen hatte, und einer ausgedehnten Bewirtung machte sich der Arzt Dr. Wernecke im Winter 1832 auf den Weg durch den Schnee zurück nach Halberstadt. Zunächst nutzte er den Trampelpfad, den die Dorfbewohner, entweder aus Gewohnheit oder aus Aberglauben (denn ein solcher »Weg« führte in diesem starren Winter ins Nichts), als eine Art DORFAUSGANG IN DIE TOTE NATUR angelegt hatten. Wäre Dr. Wernecke nicht so betrunken gewesen, hätte er den Heimweg nicht gewagt. Ich heiße mit Vornamen Klaus, ich komme immer nach Haus, sagte er sich.
    Die Schneekruste war brüchig. Bei jedem vierten Schritt brach Wernecke ein. Dann mußte er sein Bein aus der Kuhle herausziehen und gleichzeitig die Balance halten. Das ermüdete ihn sehr. Das Dorf verschwand aus den Augen. Es erwies sich aber, daß der Schnee Hügel gebildet hatte. Die Chausseebäume, welche die Straße in die Stadt flankierten, von ungeduldigen französischen Ingenieuren als Pappeln angepflanzt, waren von der Schneemasse überdeckt. Der Blick des Arztes fand keinen Anhaltspunkt. Er hielt es für möglich, daß er im Kreise lief. Was nutzte ihm da sein Chronometer.
    Solange er sich bewegte, fror er nicht. Auf dem wie mit einem Leichentuch überdeckten Gelände kein feststellbarer Horizont. Dunst kam auf. Wenn ich mich niedersetze, schlafe ich ein und werde als Toter nach der Schneeschmelze gefunden. An sich war Wernecke eine Frohnatur, neigte nicht zum Nachdenken, galt auch als Heide: einer, der über Gottes Wort Späße machte und im Todeszimmer eines Patienten die ärztliche Expertise gegen die Brabbeleien des Pfarrers setzte. Jetzt aber war ihm bang ums Herz.
    Wenn ich mich raschen Schrittes immer geradeaus bewege, orientiert an der Fußspur, die ich hinter mir lasse, werde ich mich Meter für Meter meiner Stadt, meinem Haus nähern, in dem gewiß das Personal schon ein Feuer angezündet hat. Er konnte aber in der hereinbrechenden Dämmerung die eigene Spur kaum noch sehen. Zurücklaufen, um sich zu vergewissern, wollte er nicht.
    Der unüberblickbare Schnee erzeugte eine gewisse Helle in der Nacht. Wernecke konnte weder sagen »Ich sehe überhaupt nichts« noch »Ich sehe etwas«. Dazu hätte es eines Zeichens bedurft, eines Unterschieds im Gleichmaß des schneebedeckten Landes. Was nutzte es ihm, daß er Kartenkenntnis Europas im Kopf trug, die ihm sagte, daß dieses flache (aber jetzt in Wirklichkeit einen hohen Hügel bildende) Land im Osten bis zum Ural reichte und weit im Westen auf große Flüsse stieß, die nicht vollständig vom Winter überlagert sein konnten. In diesen Westen hätte er nur über das Harzgebirge hinweg gelangen können. Kein Zeichen, daß er in Richtung des Gebirges liefe.
    Etwa zehn Minuten bis Mitternacht waren es. Das treue Chronometer referierte

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