Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
gleichgültig, phasenweise agierte er emotional. Dieser Charaktertyp, so Fassbinder, sei für Auschwitz weniger ausschlaggebend als die Gemütslage, die sich im staatlich gesteuerten Unterhaltungsprogramm äußere, noch im April 1945 völlig intakt.
Ein Befehlshaber der Totenkopfverbände habe auf der Eisenbahnfahrt in Richtung Osten, so Fassbinder (der entweder über einen Zusammenhang oder eine Szene in einem von ihm geplanten Stück sprach), den Schlager »Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht ...« auf der Zunge gespürt. Tatsächlich sei er aber nicht auf dem Wege zu einem Abschied, sondern zu einer Ankunft gewesen, nach welcher er Befehle gegeben habe mit Schaden für Dritte.
Das Steinherz
»Und fühle wieder, wie die kalte Welt dem Herz unwiderstehlich böse Wunden schlägt.«
Alexander Puschkin
Schwer wie ein Stein lag das Herz in seiner Brust. Wie sollte er sich noch ausdrücken? Für Sentimentalität und Abschiedsworte war er nicht gerüstet. Er legte sich am zweiten Werktag des Jahres 2009 an selbstgewähltem Ort, den er, der sonst immer gefahren wurde, zu Fuß erreichte, auf die Schienen der Regionalbahn. Der Triebwagenführer des Regionalzugs, der in einer Kurve den Berg zu umfahren hatte, würde ihn zu spät sehen.
An sich war dieser Mann, ein Jurist und Milliardär, Sohn und Enkel von Unternehmern, nicht am Ende aller Aussichten. Noch besaß er Gefährten. Und von seinem Vermögen würde ein letzter Rest bleiben, mit dem ein Neubeginn möglich wäre. Was er sich nicht verzieh, war, daß er in den letzten Tagen des »Dezemberfiebers« die Verträge unterschrieben hatte, welche die Banken ihm vorlegten. In dieser Hinsicht besaß er ein »Herz aus Stein«, während er sich doch für flexibel hielt. Er hatte seine Unbeugsamkeit unterschätzt. Nach dem ägyptischen Pfortenbuch hat das STEINHERZ zwei Aufgaben: Es wird in der großen Standwaage nach dem Tod gegen das Steingewicht der Maße WAHRHEIT , RECHT und ORDNUNG abgewogen; es darf nicht für zu leicht befunden werden. Zum anderen hat es die Funktion, die Verfehlungen des irdischen »Fleischherzens« unbeirrbar zu leugnen; dazu hilft ihm seine steinerne Natur. Der Mann in Schwaben hatte ein solches Steinherz in Form eines Monuments, das sich gegen den Feind in Bewegung setzt, in der Staatsoper Stuttgart auf der Bühne dargestellt gesehen.
Die konzertierte Gleichgültigkeit, die ihm in den rasch aufeinanderfolgenden Terminen der Dezemberkrise – noch im Juli schienen alle seine Unternehmen konsolidiert – gegenübertrat, entsetzte ihn. Bis dahin hatte er Gespräche jeweils mit einem einzelnen Gegenüber, dem Bankhaus, geführt. Er hatte es mit Personen zu tun gehabt, die er einzuschätzen wußte und durch Zugeständnisse oder den Hinweis auf einen Nachteil für die Gegenseite zu Kompromissen veranlassen konnte. Anders die Versammlung von jeweils mehr als zwanzig Vertretern unterschiedlicher Banken, die wie eine GESAMTHAND ihm und seinen Mitarbeitern jetzt gegenübersaßen. Das waren keine Chefs. Jeder achtete auf die Schritte des anderen; alle gemeinsam standen sie unter dem Joch ihres gegenseitigen Mißtrauens. Auf der Suche nach Schadensvermeidung blieben sie unbeweglich. In früheren Fällen wäre die Drohung, daß er seine Holding in Insolvenz gehen lassen werde, einem Diktat der Banken aber nicht folgen würde, wirksam gewesen. Er besaß diese Möglichkeit. Der Schaden für ihn selbst wäre deutlich, aber der für die Gegenseite wäre größer. Die Bankenvertreter erkannten keine Unterschiede; sie schienen nichts zu empfinden.
Nach seiner Unterschrift unter die Verträge, in einem Anfall von Angst, die er in seinem Leben sonst bisher nicht kannte, folgte die UNWIRKLICHKEIT DER FESTTAGE . Wenn es um den Untergang seines Reiches ging, eine Fehlerkette, die er sich nicht verzieh, gab es nichts zu feiern. Wieso konnte mit 12,5 Milliarden Euro Guthaben plus Kredit kein Gleichgewicht gegenüber 16 Milliarden Euro nomineller Verbindlichkeiten hergestellt werden? Galt er nichts? In den Verträgen war diese Sache verfälschend dargestellt. Die Anzahl von Samstagen und Sonntagen sowie gesetzlichen Feiertagen war zum Jahreswechsel 2008/09 wie im Krisenjahr 1941: Es war die Höchstzahl des möglichen Ausfalls von Werktagen (wenn nämlich Heiligabend auf einen Mittwoch fällt, so gibt es wie in der damaligen Krise drei Arbeitstage zwischen dem 24. 12. und dem 5. 1.), in denen einer noch etwas hätte retten können. Was den Mann mit dem
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