Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
ihm präzise die Zeit. Er gab sich zu diesem Zeitpunkt noch vier bis fünf Stunden Lebenschance. Schade, sagte er sich, wenn ein so guter Arzt stirbt.
Einen Moment lang, er wischte sich mit den kalten Händen die Augen, glaubte er einen winzigen Blitz in der Ferne zu erkennen. Jetzt, dachte er, beginnen die Täuschungen. Davon hatte er in den Berichten des Chirurgen Baron Larrey gelesen: Wie in der Wüstenhitze Ägyptens optische Täuschungen und ganz ähnlich irrige Sinneseindrücke in den Eiswüsten Rußlands die Grenadiere des Kaisers heimgesucht hatten. Er glaubte also zunächst dem ZEICHEN nicht, das ihn führen wollte. Ein Eisberg von Skepsis, die mit Müdigkeit eher zunimmt, umgab den erschöpften Mann.
Kurz gesagt, das Zeichen, widerwillig und schlecht rezipiert, rettete den Arzt. Es handelte sich um die Lampe des Domküsters, welche dieser, die Treppenstufen emporsteigend, in gewissen Abständen an den Kirchenfenstern vorbeiführte. Der Küster war schon verspätet. Etwa zehn Minuten brauchte er mit zwei Pausen für den Aufstieg zu den Glocken. Die Stadt würde die Glocken zwei oder drei Minuten später als üblich zu hören bekommen.
Dr. Wernecke entschloß sich dann doch matten Auges, dem Licht, das wenig später verschwunden war, zu trauen. Das Licht hatte sein verstocktes Herz geführt. So fand der Arzt zu den ersten Häusern der Stadt.
Dem mittelalterlichen Kirchenschiff, das in mehrheitlich ungläubigem Land mächtig und gestrandet dalag, stiftete er, der Heide, eine aus Eisen gefertigte Lampe, die in Höhe der Glocken am Turm angebracht wurde. Auch wenn es später keine weiteren Verirrten gab, weil auch die Winter milder wurden und die Ärzte auf Auswärtseinsätze verzichteten, existierte diese Lampe, zunächst mit Öl gefüttert, später auf Veranlassung der Enkel des Arztes von Elektrizität gespeist, bis zum Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. Da sie im Frühjahr (es galt Sommerzeit) erst um 21 Uhr angezündet wurde, leuchtete sie nicht bei ihrer Zerstörung.
Die Küche des Glücks
Gleich was man über die Liebesbeziehungen sagt, ihr natürlicher Reichtum an Kasuistik widerlegt es. Die Liebe ist ein Tausendfüßler. Wenn man von ihr erzählt, sind Übersicht, Einteilung und Thesen die schwächste Tugend.
Abb.: »Liebe als ein Begriff dafür, daß man das, was man von anderen haben will, gerade dadurch selbst gibt.«
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Die Prinzessin von Clèves
»Du sollst Achtung haben vor der Wildheit, dem Eigensinn,
der Genauigkeit Deiner Empfindungen.«
Abb.: »Sie war nicht gelehrt, doch sie las mit Beharrlichkeit.«
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Ein Roman der poetischen Aufklärung ...
Eine der großen Damen Frankreichs (wir wissen heute, daß es sich um Marie-Madeleine Pioche La Vergne, Comtesse de La Fayette handelt) schreibt mit zwei Helfern in den Jahren 1670-1678 einen Roman, der – zunächst umstritten – rasch nach Veröffentlichung Verstand und Herzen der Leser Frankreichs ergreift und die Suchbegriffe, mit denen Menschen die Verwirrungen in den Liebesbeziehungen enträtseln wollen, nachhaltig verändert. Der Roman erscheint anonym 1678 und trägt den Titel: La Princesse de Clèves .
Die Geschichte, die der Roman beschreibt, wird zeitversetzt erzählt. Aus der prüden Zeit des Sonnenkönigs ist sie verlegt in die fiktionalisierte Zeit Heinrichs II . von Frankreich und seiner Geliebten Diane von Poitiers. Es ist irreführend anzunehmen, der Roman habe sein Zentrum in einer höfischen Liebesgeschichte. Zwar ist Madame de La Fayette, die Autorin, eine Adlige von hohem Rang, der Roman aber entfaltet ein Selbstbewußtsein, das der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft entspricht und von der Autorin geteilt wird.
Es hat sich in dieser Zeit eine Lesegesellschaft gebildet, welche die Standesschranken überschreitet. Der Roman zeigt die gedankliche Autorität des noch unentfalteten, aber unaufhaltsam aufsteigenden Standes mitsamt dem Echo an Kenntnissen, wie sie den Erfahrungen einer Adligen entsprechen. Eine Besonderheit allerdings hat die Szenerie des Romans: Die beschriebenen Adligen, welche die Anfänge bürgerlicher Emanzipation vorführen, bewegen sich mit einer Freiheit, wie sie in den bürgerlichen Lebensläufen zunächst nicht existiert. 16
Die neue Gesellschaft im Frankreich des 17. Jahrhunderts vermag sich vorzustellen, daß Menschen Produzenten und nicht Zuschauer ihres Lebens, nicht Empfänger ihrer Schicksale sind. Das gilt für den »eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb«, für
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