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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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verurteilen und die Gräfin in seine Abhängigkeit bringen können. Nichts davon geschah. Bald darauf siedelten Graf und Gräfin, durch die Ardennen entkommen, in einem Privathaus jenseits des Rheins in Koblenz, wo eine große Kolonie von Emigranten auf eine Veränderung der Zeitgeschichte lauerte.
    Nach kurzer Zeit folgte Figaro der früheren Herrschaft, er, der Mächtige, der Leistungsstarke. Seine Dienste als Ratgeber, Friseur und Kostümbildner waren in Koblenz begehrt. Auch in deutschen Kreisen. So versorgte er mit seinen Einkünften, als »Diener« oder als »Herr«, den gräflichen Haushalt. Bald stellte sich das intime Gefühl der Morgenstunden an Haar und Gesicht der Gräfin zärtlich wieder her.
    Nach der Rückkehr des Königs (denn die Turbulenzen der napoleonischen Kriege sind vorüber) ging das gräfliche Paar, nicht mehr ganz jung, nach Frankreich auf die restituierten Güter zurück. Sie nahmen Figaro nicht mit. Infolge der häufigen Regierungswechsel, in denen er oft auf der falschen Seite gestanden hatte, da nicht der politische Vorteil sein Handeln bestimmte, galt er in Adelskreisen als verbraucht. Auch modisch hatte er sich nicht hinreichend angepaßt.
    Er blieb Provinzfriseur am Rhein. Deutsche Sprachkenntnisse hatte er erworben. Drei Schwestern hatte er, was Mozarts Oper verschweigt. Selbst blieb er kinderlos, die Schwestern aber hatten 16 Nachkommen. Der Name der ursprünglich spanischen Familie war berühmt.
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    Ergänzender Hinweis von Dr. Boltzmann:
    Evolutionsbiologisch gesehen, teilt Dr. Boltzmann mit, scheine die Positionierung von Figaro in dieser wahren Handlungsabfolge zunächst negativ. Mit seiner überlegenen Körperkraft hätte Figaro schon als Jugendlicher den Grafen, der sich um Susanna bewarb, prügeln und verscheuchen können. Ein Tier hätte so gehandelt. Später hätte er als Vorsitzender des Revolutionstribunals dem Grafen in die Kehle beißen sollen. Er hätte sich die Gräfin und somit die Chance auf eine eigene Kinderschar verschafft.
    Tatsächlich, so Dr. Boltzmann, sei jedoch der Handlungsweise Figaros, dem Prinzip seines Handelns, etwas abzugewinnen. Er habe ein neuartiges Terrain für das Walten und die vielfältige Ausdehnung der zärtlichen Kraft entwickelt (ein Terrain, das als antike Errungenschaft im 18. Jahrhundert verschollen gewesen sei). Die Neuerung besitze die Wirkungsweise eines neu hinzutretenden Gestirns, das eine Konstellation bereichere. Es entstünden neue Widersprüche, aber weniger, als an älteren bereinigt würden. Es sei auch nicht ausgeschlossen, daß aus einer solchen Positionierung, eines »glückbringenden Begleitgestirns«, nicht auch Kinder entstehen.

    Abb.: Eine Philologin. Sie begleitet mit Zuverlässigkeit fremde Texte. Sie findet sie, rekonstruiert sie und bewahrt sie vor Mißverständnissen. Ohne sich die Texte selbst anzueignen. Eine Öffentlichkeits-arbeiterin.
    Was macht Mut?
Eros und Thanatos
    Andere Mutmacher (Derivate des Eros) sind: Intelligenz, revolutionärer Elan, Lust, Kunst, Feingriff, Kooperation, Freundschaft, Generosität, Unbeherrschbarkeit der Libido, Treue.
    Alle diese Basiswerte, auf welche die zärtliche Kraft und der gute Wille wetten, haben eine helle und eine dunkle Seite, je nachdem, ob Eros oder Thanatos bei der Entstehung des Derivats dominieren.

    Abb.: Die Lust ist eine Ziege.
    Das Beharren auf dem Wert von Leiden und Trübsinn, die Aufwertung der »tristen Leidenschaften« (Nietzsche), gehört zur dunklen Seite der Intelligenz. In einer revolutionären Bewegung folgt der Durchsetzung der Freiheitsrechte, d. h. einer Phase der Helligkeit, die Guillotine, eine Periode dunkler Energie. Den Höhepunkt des Romans Die Prinzessin von Clèves bildet das Kapitel, in dem die Prinzessin ihrem Mann etwas gesteht, was sie für die Wahrheit ihres Herzens hält. Das ist in der statischen Hofgesellschaft Frankreichs unüblich, ja verboten. Was man subjektiv fühlt, gilt es zu maskieren. Es ist verboten, subjektive Wirklichkeiten zu offenbaren und so die Umgebung in die eigene Verwirrung hineinzuziehen. Dieses Gebot der Verstellung (entwickelt, um den Bürgerkrieg des Gefühls zu dämpfen) wird von der Prinzessin revolutionär durchbrochen. Sie verhält sich dabei ungeschickt. Sie geht mit der Wahrheit, einem scharfen Werkzeug, ungeschickt um. Im Ergebnis tötet sie ihren Mann durch ihr Bekenntnis. Hell ist der Mut, die Konvention zu durchbrechen, ihre Beziehung zum Prinzen zu strapazieren. Dunkel ist das hohe Maß an

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