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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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wurde in dessen Praxisräumen ausgetragen, die das Hausmädchen im Anschluß an Spaziergänge, die sie mit dem Kinde machte, aufsuchte. Daher wurde das Kind zu den Rendezvous mitgeführt, wartete in der Zwischenzeit und gewann dabei Einblicke. Es bekam vom Hausmädchen, das wohl Bezahlungen entgegennahm, und auch vom Arzt Geldmünzen geschenkt, in der Erwartung, daß dies sein Schweigen gewährleiste. 24
    Einige Zeit später verlangt das Kind vom Vater Geld für den Kauf von Farben, um Ostereier anzumalen. Der Vater verweigert das Geld. Das Mädchen wendet die Anfrage beim nächsten Mal anders. In der Schule sei eine Spende von 50 Pfennig pro Kind gefordert, als Beitrag zu einem Kranz für die verstorbene Landesfürstin. Der Vater gibt dem Kind 10 Mark; sie bezahlt ihren Beitrag, legt dem Vater 9 Mark auf den Schreibtisch und kauft für die übrigen 50 Pfennig Farben, die sie im Spielschrank verbirgt. Der Vater fragt, was sie mit den fehlenden 50 Pfennig gemacht und ob sie nicht dafür doch Farben gekauft habe. Sie leugnet das. Ihr Bruder aber, der an der Bemalung der Ostereier teilhatte, verrät sie. Ihr Vater beauftragt die Mutter mit einer Züchtigung der kindlichen Lügnerin. Die Mutter erschrickt, als sie die Reaktion ihres Kindes auf die Schläge erlebt. Sie will trösten, es bleibt vergeblich. In der psychoanalytischen Kur stellt sich heraus, daß das Kind den zugesteckten »Liebeslohn«, den es vom Arzt und dem geliebten Hausmädchen her kannte, vom Vater zu erhalten wünschte. Das siebenjährige Mädchen habe gelogen, sagt Freud, weil es als guterzogener, zärtlich gesinnter Mensch den Grund für seine Bitte (nämlich, sich den Vater zu Lasten der Mutter anzueignen) nicht formulieren konnte. Es ging nicht um eine Lüge, sondern um die Unausdrückbarkeit der Wahrheit in diesem Fall. Man müsse Lüge und Unbestimmtheit unterscheiden, sagt Freud.
    Es gebe eine Relativität innerhalb des Realitätsprinzips, ergänzt hierzu der Soziologe Dirk Baecker. Jede Rede besitze Plastizität, die den Ausdruck nach den Umständen verforme. Sachlichkeit, Zeitlichkeit, Örtlichkeit seien hierbei von den subjektiven Umständen abhängig. Das Chamäleon Wirklichkeit wandele sich nicht bloß scheinbar, sondern tatsächlich infolge der subjektiven Gewalt anwesender Personen.
    Das Kind sei, so Sigmund Freud, in seinem Verlangen nach dem geliebten Vater zurückgewiesen und durch die beauftragte Züchtigung durch die Mutter nochmals gedemütigt worden. Fasse man den Bestand der Familie, ihre Gleichgewichte, als eine Republik auf, so sei hier die Verfassung und nicht bloß der Wille des Kindes gebrochen worden.
    Das Großmütige allen seelischen Geschehens zeigte sich im weiteren Verlauf der Kur. Als der – sonst stets passive – Therapeut die Patientin aufforderte (und damit provozierte), in Zukunft nie mehr Blumen zu den Behandlungsterminen mitzubringen, brachen die Echos jenes alten Konflikts lebhaft hervor. Wie das unterirdische Becken eines Vulkanberges entleerte sich »die Blase der Versagung«. Jetzt war das Leid aufgelöst. An einem einzigen Vormittag (in einem ähnlichen Zeitmaß, in dem einst die Wende zum Schlechten zustande kam). Die Zuversicht des Kindes war nicht wiederherzustellen. Aber der Zwang, in tausend Unterschieden den Konflikt in der neuen Familie weiterzuführen, hatte sich aufgelöst.
Die Hoden der Aale
    Seit zwei Jahren schon arbeitete Phillie Sophia Jonasson für ihren PhD an der New York University ( NYU ). Thema ihrer Dissertation war das früheste Forschungsobjekt Sigmund Freuds, das dieser noch vor seiner Doktorarbeit verfolgt hatte. Gegenstand von Freuds Interesse waren die Hoden von Tiefseeaalen, d. h. deren Physis und Metamorphose während des Langen Marsches von den Bächen und Strömen ihrer Heimat über den Ozean zur Sargassosee in der Nähe der Bahamas. 25
    Ausgestattet mit gewaltigen Fettvorräten, hatten die Aale die Reise begonnen. Ausgemergelt, mit letzten Kräften, gelangten sie zu den Begattungsplätzen. Statt durch Zweikämpfe mit Konkurrenten, notierte Freud, entschied sich der EVOLUTIONÄRE WETTBEWERB über dieses Durchhaltevermögen.
    Interessant schien es Freud, daß diejenigen Aale, die sich als Voreltern künftiger Generationen durchsetzten, an der Abmagerung zu erkennen waren, ihre Geschlechtswerkzeuge an der Degeneration jedoch nicht teilnahmen. Phillie Sophia Jonasson konnte alle Beobachtungen von Freud nachvollziehen. Die Reisestrecke (zu Vermehrung und Tod hin) betrug 5000

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