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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Kilometer. Auf der Hälfte des Unterwasserweges waren die After der männlichen Aale nach innen genommen. Da die Leistung ohne Nahrungsaufnahme (über mehr als ein Jahr hin) erbracht wurde, waren die Verdauungsorgane verkümmert. Die Leibeshöhle war (bis auf geringe Reste der Vorratsfette) vollständig von den Geschlechtsorganen ausgefüllt.
    Welcher erotische Elan aber, so faßte Ms. Jonasson Freuds Forschungsansatz zusammen, führt die Aale so zielgenau in die Ferne? Der Eros der Tiere, so Freud, äußert sich im Rhythmus der Fettaufnahme und Fettabgabe, der Navigationsleistung und der enormen Dauer ihrer Wandertradition. 26
    Ihre Tugend heiße DAUERHAFTIGKEIT . Es gehe um die Treue zu einem Ort, nicht zu einem Subjekt. Nicht durch »Wahl«, sondern durch Instinkt fänden die Tiere seit Jahrtausenden den vorbestimmten Platz auf dem blauen Planeten, von dem aus die Nachkommen zu den Flüssen Europas zurückschwärmten.
    Ms. Jonasson war erstaunt über eine Notiz Freuds, welche die Treue der Aale mit der menschlichen Moralität verglich. Es sei kaum anzunehmen, schrieb Freud, daß die Eigenschaften der Aale durch »Präsexuellen Schock« oder »Präsexuelle Lust« (die sich in Schuld verwandelt) begründet sei, vielmehr handele es sich um NATURWÜCHSIGE MORALITÄT AUS EINEM STÜCK . In einem halben Jahr würde Ms. Jonasson ihren PhD abgeschlossen haben und danach in San Francisco einen Gefährten suchen, dem sie ihr Leben anvertrauen könnte. So klar ihr Entschluß war, das Examen zu bestehen, so unklar waren ihr Wahl des Ortes und des passenden Individuums, das sie ja auch noch gar nicht kannte. Fast glaubte sie, daß es für den Fall einer die Menschheit überholenden TIERISCHEN EVOLUTION wünschenswert sei, Eros und Intelligenz der Aale gegen die von uns Menschen zu tauschen.

    Abb.: Eingang zur »Unterwelt«. Die Grabungsstelle liegt unterhalb der Kirche Santa Maria sopra Minerva in Rom. Sigmund Freud bezieht sich in »Das Unbehagen in der Kultur« ( Gesammelte Werke , Band XIV , Frankfurt a. M. 1972, 5. Auflage, S. 428ff.) auf diesen Baukomplex. Die Kirche steht über dem Tempel der Minerva. Man könne, mit Vorbehalten, die Eigentümlichkeiten des seelischen Lebens anschaulich machen, wenn man sich vorstelle, daß der heidnische Tempel und die christliche Kirche (und sämtliche darunterliegenden früheren Bauwerke, die in den Schichten verborgen sind) gleichzeitig dem Betrachter vor Augen stehen. Jetzt hat der Archivrat Fred Mückert aus Chemnitz, nach seiner Entlassung 1991 in der Warteschleife, einen Katakombengang entdeckt, der unterhalb der Reste des Tempels der Minerva in die Tiefe führt und sich dort nach Norden und Westen verzweigt. Der oben abgebildete Eingang führt schräg abwärts zu diesem Unterbau. Möglicherweise, schreibt Mückert, führe das System unterirdischer Gänge nicht zur ›Unterwelt‹ (deren Eingang in der Nähe von Neapel liegt), sondern zum Labyrinth. Dieses sei somit, wende man Sigmund Freuds Gleichnis an, gleichzeitig als Tempel der Minerva und Santa Maria sopra Minerva (und sechzehn weitere sakrale und profane Bauwerke an dieser Fundstelle) aufzufassen. Unten sei alles dunkel, nur der Eingang von der Seite (wie oben) sei fotografisch abbildbar.

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Die Gärten der Gefühle
    Klassische Metaphern für die Eigenarten der Liebe: Wahlverwandtschaften. Die Sterne und ihre Gravitation. Balzacs literarische Soziologie und seine Konstellationen. Eisensteins Kugelbücher . . .
Die Wahlverwandtschaften. Parklandschaft mit vier Liebenden
    »An allen Naturwesen,
    die wir gewahr werden,
    bemerken wir zuerst,
    daß sie einen Bezug
    auf sich selbst haben.«
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    Gleich im ersten Teil von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften kommen drei der handelnden Personen, Eduard, Charlotte und der Hauptmann, in ihrem verfänglichen Gespräch auf die chemischen Attraktoren zu sprechen. Regentropfen, heißt es, vereinigen sich, um schneller zu strömen. Ihre Chemie vereinigt sie zu Bächen und Flüssen. Dagegen habe Quecksilber die Tendenz, sich in Kügelchen abzuschotten. Der Hauptmann fügt hinzu: Diejenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt .
    Sein Argument überspringt die strenge Definition von Verwandtschaften, die durch Gesetz, Heirat und Vorfahren gestiftet sind. Charlotte, die den Hauptmann liebt, nimmt den Faden auf: »Lassen Sie mich gestehen, wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen [ nämlich die Alkalien und Säuren ]

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