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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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»Die Bürde der Vernunft«.

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Was macht der Liebe Mut?
    Vielleicht ist es nicht die Liebe selbst, sondern sind es ihre Abkömmlinge, ihre Seitenlinien und Ränder, die Mut machen? Nichts kann die Liebe davon abhalten, auf ihr Glück zu wetten . . .
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    Mutmacher sind:
    1. Sachlich-Sein, Sich-Mühe-Geben
    2. Hautnähe
    3. Blindheit und Unbestechlichkeit der Libido
Eine Bemerkung von Richard Sennett
    Die zärtliche Kraft, überwältigt auf der einen Seite durch die chemisch-wilde Sexualnatur, die ihr Träger ist, auf der anderen Seite gestört durch den modernen Anspruch, die fehlende Validität des Ichs im gesellschaftlichen Alltag auszugleichen, überlebt im 21. Jahrhundert, sagt der Soziologe Richard Sennett, eher in ihren Derivaten als in der Wüste der Geschlechter.
Was sind Derivate?
    Lat. derivare = ableiten.
    In der Ökonomie sind Derivate Wetten auf sogenannte Basiswerte, auf künftige Aktienkurse, Durchschnitte, Wahrscheinlichkeiten, auf Mangel und Überfluß oder das Wetter. Derivate können auch Basiswert von anderen Derivaten (zweiten Grades) sein. Derivate sind das am schnellsten wachsende und sich verändernde Element des modernen Finanzwesens. Sie decken Risiken ab und erzeugen Risiken. Dabei unterscheidet man Risiken, welche durch Wahrscheinlichkeitsrechnung ermittelt werden können, von Unsicherheit (uncertainty), die nach keiner mathematischen Methode, weil sie »Nichtwissen« bedeutet, bestimmt werden kann. Ökonomischen Derivaten wohnt ein Hebeleffekt inne (Leverage-Effekt). Der Inhaber eines Derivats partizipiert überproportional sowohl an Kurssteigerungen als auch an Kursverlusten.
    Das Wort Derivat hat für die Liebe eine andere Bedeutung als für die Ökonomie. Derivat im Sinne von Ableitung , Abkömmling hieße im Französischen Dispositiv . Die Bedeutung, mit der das Wort in der französischen Philosophie verwendet wird, grenzt an die ursprüngliche Semantik von Derivat: »Die Grenzen eines Ufers verlegen«, ein »Wasser in einen Kanal ableiten, damit es dorthin gelangt, wo es gebraucht wird«, Bewässerung überhaupt, alles von Lateinisch derivare gedeckt, wäre eine Bildvorstellung, die in der Liebe eine Bedeutung hat.

    Abb.: Ingrid Bärlamm.
    Es gibt offenbar in diesem Kontext zwei verschiedene Richtungen einer solchen Bedeutung: 1. Liebe wettet auf einen Basiswert, d. h. auf ihr Glück. 2. Die zärtliche Kraft äußert sich auf Nachbargebieten oder Neuland, wenn sie sich auf ihrem eigenen Gebiet nicht hinreichend artikulieren kann.
    Zum ersten Fall gehören: Eine junge Frau bindet sich an einen Mann auf den Rat ihrer Mutter (wie die Prinzessin von Clèves); ich bemühe mich um gute Noten in der Schule, später um Intelligenz, weil die Person, die mir am liebsten ist, es von mir erwartet. Ich gebe mir Mühe, indem ich das, was ich kann, einsetze. In bezug auf eine Person, die sich mit einem Mann verband, weil sie auf die Handlung eines Romans vertraute (dessen Verfilmung sie gesehen hatte), sagt die Heiratsvermittlerin Ingrid Bärlamm, sei die Chance, nach diesem Verfahren glücklich zu werden, nicht geringer, als wenn die Person »gewählt« hätte. In allen diesen Fällen äußert sich die zärtliche Kraft indirekt, d. h. als Derivat.
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    Die Derivate der Liebe
    unterscheiden sich von denen der Banken:
    Wenn sie abstürzen,
    fallen sie auf die Härte zurück,
    die ihren Rohstoff ausmacht.
Eine Beobachtung von Niklas Luhmann, die auf Richard Sennetts Bemerkung antwortet
    Nach einer Beobachtung von Niklas Luhmann gehört es zu den Unterschieden zwischen dem 17. Jahrhundert (Anfängen des homo novus) und dem 21. Jahrhundert (Ratlosigkeit des homo novus), daß »Selbstverwirklichung« im gesellschaftlichen Alltag heute nur unzureichend erlebt werden kann. In der Systemwelt (Beruf, Karriere, Leistung) werden nur Teile der Person abgefragt, ja es wäre lästig, wenn einer während der Betriebs- und Leistungszeit mit seiner ganzen Person (allen überflüssigen und überfließenden Eigenschaften) daherkäme und die anderen mit seiner Ganzheit aufhielte. Die ganze Person, die nach wie vor Subjekt, d. h. Eigentum des Lebensläufers, bleibt, sagt Luhmann, muß sich in den intimen Beziehungen, noch dazu in deren engerem Ausschnitt der Sexualität beweisen und bestätigen. Das liegt wie eine Last auf der zärtlichen Kraft, so daß man eine Art Flucht aus der Überforderung, eine Flucht aus dem Liebeseigentum beobachten kann.
    »Die Liebesbeziehungen werden, weil nur in ihnen der

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