Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
unabhängig und identisch verteilt mit endlichem Erwartungswert μ und endlicher Varianz. Dann gilt für jede noch so kleine Schranke ε: Die Wahrscheinlichkeit, daß das arithmetische Mittel aus X 1 bis X n um mehr als ε von der Zahl μ abweicht, konvergiert für wachsendes n gegen null.
Den Beweis führt man heute nach Chebyshev. 21 Sein Ansatz mittels der nach ihm benannten Ungleichung läßt sich auf viele andere Situationen übertragen.
Für eine reellwertige Zufallsvariable X mit endlichem Erwartungswert gilt für beliebiges ε > 0 die Ungleichung von Chebyshev
Angewandt auf ( X 1 + . . . + X n ) / n ergibt dies
Und Bernoullis Gesetz folgt nun mit n → .
Abb.: Pascal.
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»Ort und Zeit ohne Grund ist Gewalt« (Aristoteles)
Medea wird aus ihrem Vaterland Kolchis weggeführt, ins fremde Korinth. Die Zeit, in der Jason sie liebte, ist vergangen. Zeit und Ort sind ihr entfremdet. Es kommt zur Katastrophe, sie tötet die eigenen Kinder. Aristoteles bezeichnet eine solche Geschichte als »Wegfall des Grundes«. Die Ratio geht verloren, weil Medea buchstäblich den Boden unter ihren Füßen verliert.
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Abb.: Jason und Medea. Mittelalterliche Darstellung. Die Köpfe der Protagonisten sind ähnlich groß wie in Kupferstichen von 1810, welche die Wahlverwandtschaften betreffen.
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Neo-Stoizismus
Die Stoa, wie sie in der Antike durch den Philosophen und Staatsmann Seneca definiert wurde, folgt dem Ideal der ATARAXIA , einer Haltung unerschütterlicher Ruhe. Im Gelände der zärtlichen Kraft bedeutet sie Verzicht. Am Rande der Stürme, des bewegten Flusses, kehrt der Wanderer um.
Die stoische Haltung hat aber auch die andere, nicht auf Verzicht und Umkehr gerichtete Seite, die in der Person der Lukretia die römischen Könige stürzte. Die junge Frau war von einem leichtfertigen Prinzen verführt und vergewaltigt worden. Der letzte König Roms, Tarquinius Superbus, verzögerte die Aufklärung des Falles, suchte den Sprößling zu schützen. Lukretia erstach sich vor aller Augen. Die Geschichte der Virginia variiert diese Parabel.
Neo-Stoizismus nennt man die Wiederaufnahme der antiken Haltung, die zum Kernbestand der bürgerlichen Gesellschaft im 17. Jahrhundert zählt. Tod bei Insolvenz, FREIHEIT oder TOD (Tod des Marquis von Posa) und LIEBESTOD . 22
Abb.: Seneca.
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Ableitung der Vernunft (raison) aus dem Wort Arraisonnement
Gibt es in der Genealogie der Vernunft (raison) mehr als eine Ahnenreihe? Wenn in dieser Hinsicht zwei verschiedene Abstammungslinien existieren, gilt eine solche doppelte Genealogie auch für die Liebe? Gibt es überhaupt zwei unterschiedliche Ableitungen der menschlichen Grundkräfte? In seinem Essay Geschlecht und Hand bei Heidegger prüft Jacques Derrida die Typik der sexuellen Differenz und bezieht sie auf die Typik der Zweiheit in der menschlichen und tierischen Evolution: zwei Hände, zwei Augen, zwei Gehirnhälften, zwei Ohren – aber fünf Zehen und nicht zwei Herzen.
Generell bezweifelt Derrida, ob eine endgültige ZWEI glücklich mache. Was wäre eine ZWEI , die »noch nicht« ist oder »nicht mehr« wäre? Das »noch nicht« und das bereits »nicht mehr«, sagt Derrida, würde zur Erneuerung der Strukturen von GRUND und VERNUNFT beitragen.
Hierzu hat der Übersetzer Derridas, Hans-Dieter Gondek, eine Fußnote gesetzt:
Der moderne Ausdruck »Ratio« oder »Rationalität« könne abgeleitet werden von dem Wort ARRAISONNEMENT . Der altfranzösische Ausdruck bedeute: Überprüfung einer Schiffsladung hinsichtlich der hygienischen Zustände vor Abfahrt des Schiffes, auch: Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ladung (Schmuggelgut) und der Korrektheit der Warenverzeichnisse. Es handelt sich um das Substantiv zu dem Verb arraisonner: sich an jemanden wenden, jemand zu überzeugen versuchen, sich binden.
Hierzu bemerkt A. Gartmann: Das Gehirn bestehe zwar aus zwei Hemisphären, werde aber zur Herstellung von Ratio nur als Einheit benutzt. Nach einem Hinweis von Friedrich Nietzsche sei jedoch die Zukunft der Menschen gefährdet, wenn nicht zwei Hirne zur Verfügung stünden: Das eine mit Erfahrung und Motivation zur Wissenschaft, das andere angepaßt an das Lustwesen Mensch und imstande, Illusionen zu erzeugen und zu verteidigen. Fänden beide Tätigkeiten im gleichen Hirn statt, stünden die Wissenschaften (und die Wahrheitssuche) in der Gefahr, von der Lustsuche erschlagen zu werden. Diese sei stets stärker, so Nietzsche, als die Verstandeskräfte.
Abb.:
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