Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Einsatz der ganzen Person möglich erscheint, zu einer Bühne, d. h. weniger wirklich. Die gesellschaftlichen Beziehungen andererseits verlieren an Wert und gewinnen an Realismus.«
Die Heiratsvermittlerin Bärlamm weist darauf hin, daß eine Lösung nur darin bestehen kann, die libidinösen Bedürfnisse (sie hat Soziologie in Bielefeld studiert) in die Partialbeziehungen der Systemwelt einzubringen. Wie glücklich, sagt sie, macht das Lächeln der eingearbeiteten Fachkraft, mit der Doktor Mansfeld zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hat; dagegen scheint ihm das Lächeln seiner Ehefrau, die er erst zwei Jahre kennt, beim Weggehen am Morgen eine andere Bedeutung zu haben als bloße Freundlichkeit. Er meinte, dieses Lächeln spiegle die Erwartung, daß der neue Tag mit seiner Hilfe für sie anders würde als die vergangenen Tage, was doch außerhalb seiner Macht steht. Viele heiraten heute, fügt Bärlamm hinzu, ihre Sekretärinnen. Kaum ist das geschehen, lasse sich die alte Vertrautheit des Betriebs nicht mehr herstellen. Schon sitze eine neue Fachkraft im Büro, die sich um den Chef bemühe. Beunruhigung sei die Folge.
Ein libidinöser Grund für Sachlichkeit
Sachlich-Sein,
Sich-Mühe-Geben
Der Evolutionsbiologe Dr. Erwin Boltzmann behauptet, die Mehrheit aller Menschen, die in der Geschichte überlebt hätten, besäßen eine »Rohform des guten Willens«, eine überschießende Kraft, die mit keiner ihrer übrigen »nützlichen« Fähigkeiten ganz übereinstimme. In der landwirtschaftlichen Revolution der letzten 7000 Jahre sei diese »spezielle Beimischung« zu beobachten. Daß sie für die Vermehrung, d. h. für direkte Nachkommenschaft, kausal sei, lasse sich nicht nachweisen. Menschen, denen diese Eigenschaft jedoch völlig abgehe, hätten sich wenig vermehrt. Sie trete als »Ableitung« anderer, bezahlter Leistungen auf. So zum Beispiel in der Geschichte des → Betthasen Minguel Ozman, Chronik der Gefühle , Band II , S. 463: Das käufliche Dienstverhältnis, das eines Gigolos, decke sein Verhalten nicht ab. Er habe unbezahlte Arbeit geleistet. Sein Tun sei eine Sache der Selbstachtung, nicht seines Berufs. Sie sei darüber hinaus (ebenfalls überschießend, wenn er doch eine erotische Leistung verkauft habe) durch Zweckmäßigkeit und Sachlichkeit gekennzeichnet.
Sachlichkeit, d. h. Brauchbarkeit für Dritte, sei, sagt Boltzmann, Derivat des Narcissus (der die Beziehung zu seinem Ebenbild wünscht), der Daphne (die lieber zum Lorbeerbaum erstarrt, als sich vergewaltigen zu lassen), der Jägerin Callisto (die keine Verräterin sein will, an den Himmel versetzt wird und sich als Navigationshilfe für Segelschiffe lange Zeit als unentbehrlich erweist).
Wie würden Sie diese tausendjährige Anziehungskraft nennen, wird Dr. Boltzmann gefragt. Ich wiederhole mich, sagt Dr. Boltzmann, ich nenne den libidinösen Grund für solche Sachlichkeit: Selbstachtung. Sie hebt sich in einem Milieu, das sich dem Geldverdienen verschrieben hat, besonders deutlich ab. Wer mit der Selbstachtung in Konflikt gerät, ergänzt Dr. Boltzmann, kann daran sterben.
Figaros Loyalität
Von Figaro, dem Protagonisten des Erfolgsstückes Der tolle Tag von Beaumarchais und der späteren nach ihm benannten Oper Mozarts, weiß man, daß er wie die Gräfin nicht aus dem Adel stammte. Beide verband offenbar eine Jugendliebe, ehe sie den Grafen heiratete.
Jeden Morgen karessierte Figaro seither die Haare dieser jungen Frau, richtete ihr Gesicht kosmetisch für den Tag ein. Er fühlte sich stetig zu ihr hingezogen. Er versorgte sie mit Ratschlägen, wie man weiß, zur Erhaltung ihrer Ehe. Die intime Stellung an Haar und Ohr, an ihrer Seite und in ihrem Rücken nutzte er zu keiner Intrige. Die Zärtlichkeit seiner Hände und seiner Sinnrichtung blieb zurückhaltend (unähnlich dem Inzest-Tabu, ähnlich einem Treue-Tabu, das altbekannt und zugleich neuartig, aber in der Literatur wenig definiert ist: Du sollst die Interessen derjenigen, die du liebst, nicht verraten). Die vom Grafen und der Gräfin organisierte Verbindung Figaros mit Susanna, die im Finale von Mozarts Oper perfekt schien, überdauerte die Revolutionswirren von 1789 nicht. Susanna trat eine Karriere als Schreibkraft im Wohlfahrtsausschuß an. Das gräfliche Paar saß verhaftet in einem Gefängnis in Paris. Figaro war Chef eines Revolutionstribunals geworden. Vor ihm standen Graf und Gräfin als Angeklagte. Leicht hätte Figaro den Nebenbuhler, den Grafen, zum Tode
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