Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Architekt besitzt das Wissen darüber, wie man weitere Gärten baut. Bald wird es gelingen, Parklandschaften (zivilisierte Natur) so anzulegen, daß Menschen sich ungefährdet in ihnen aufhalten können, daß Gärten Glück bringen.
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Nanni ist Kindererzieherin. Sie wird in dem verwaisten Haushalt von Eduard und Charlotte nicht mehr gebraucht und wird sich eine andere Stellung suchen in Häusern und bei Leuten, die ihre Kenntnisse benötigen.
Die wunderlichen Nachbarskinder
Die Garten- und Lebensarchitektur, so der skeptische Goethe, hat in dem Roman Die Wahlverwandtschaften noch das falsche Personal. Anders als in Mozarts Così fan tutte bringt die Vierergruppe der Liebenden Charlotte /Hauptmann, Eduard/Ottilie ein verheerendes Ergebnis für das fünfte Lebewesen, das Kind.
Ganz anders die Gegengeschichte: Die wunderlichen Nachbarskinder . Es geht um eine Liebesgeschichte mit glücklichem Ausgang. Zwei Kinder sind von den befreundeten Familien füreinander bestimmt. Darüber werden die beiden feindselig; sie fürchten die Vorbestimmtheit, aber auch (unbewußt) die Stärke des anderen, die sie anerkennen. Der junge Mann geht in die Ferne. Das Mädchen verlobt sich mit einem anderen. Dann steht plötzlich der »geliebte Jugendfeind« vor der Tür, und sie sieht, daß sie durch ihre »Wahl« ihr Leben verpfuscht hat.
»Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin.« Das junge Mädchen stürzt sich verzweifelt in den Rheinstrom. Der »Jugendfeind« springt ihr nach. »Die Begierde zu retten, überwand jede andere Betrachtung.« Besinnungslos, auch hemmungslos finden die beiden zueinander. Leute, welche die aus dem Strom Geretteten, naß und nackt, wie sie sind, bei sich aufnehmen und wärmen, verkleiden sie aus dem Bestand ihres eigenen Lebenslaufes als Braut und Bräutigam. Bei dieser Kostümierung verbleibt es. Als die beiden »in ihrer sonderbaren Verkleidung« aus dem Busch hervortreten, sind die Väter und Mütter beider Seiten, auch der Verlobte des geretteten Mädchens verblüfft.
»Man erkannte sie nicht eher, bis sie ganz herangetreten waren. Wen seh ich? riefen die Mütter. Was seh ich? riefen die Väter. Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder. Eure Kinder! riefen sie aus: ein Paar. Verzeiht! rief das Mädchen. Gebt uns Euren Segen! rief der Jüngling. Gebt uns Euren Segen! riefen beide, da alle Welt staunend verstummte. Euren Segen! ertönte es zum drittenmal, und wer hätte den versagen können!«
Die beiden, die jetzt auf Dauer verbunden sind, erleben massive METAMORPHOSEN , bald sind sie Feind, bald innig Freund, bald füreinander verloren, gleich darauf wiedergewonnen. Sie besitzen aber, so Goethe, ein Maß in der Anwendung ihrer Leidenschaft. Sie gehören zu der Gattung des homo kompensator. Sie sind GLEICHGEWICHTLER IHRER GEFÜHLE .
Vermutlich würden sie einem Flüchtling Gastrecht gewähren. Zum Beispiel wenn Götter zu Gast kommen. In Ovids Metamorphosen entspräche ihr Lebensbund dem, den Philemon und Baucis sich verdient haben. Ihr Beispiel macht Mut. Wie es auch mutig ist, daß der Junge spontan der Geliebten nachspringt. 27
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Abb.: Jupiter mit dreien seiner großen Monde. Der vierte Mond befindet sich hinter dem Planeten. Einen Vergleich mit der Vierergruppe in den Wahlverwandtschaften zieht Xaver Holtzmann unter Hinweis auf die große Ruhe und Dauerhaftigkeit in den Bewegungen dieser Himmelskörper: Sie verhielten sich, anders als die unruhigen Menschenpaare, die einander aus Vertrauen auf ihre eigene Kraft störten, unter dem Zwang der Gravitation äußerst verträglich.
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Abb.: Kallisto, der im linken Bild nicht sichtbare Jupitermond, ist benannt nach der Geliebten des Zeus. Sie wurde als Große Bärin an den Himmel versetzt. Gleichwohl nimmt sie auch die Gestalt eines der schönsten Monde unseres Planetensystems an.
W. Benjamin, die Sterne und die Revolution
Walter Benjamin bevorzugt in seinem Passagenwerk statt der chemischen Metaphern Sternen-Metaphern als Bezeichnung für die Attraktionen der zärtlichen Kraft. Die Gravitation erlaube eine Beschreibung der großmütigen Seite in den Liebesverhältnissen, welche die enge Verbindung und die rasche Entschiedenheit der chemischen Reaktion nicht besitzt. Chemie habe, so Benjamin, die einstige Offenheit der alchemistischen Kunst verloren.
Abb.: Zwei Liebende in der Antike. Ein Gott wird sie ans Firmament versetzen.
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Abb.: Als Derivat der zärtlichen Kraft gilt für Benjamin die Revolution. Er erinnert an die
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