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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als blutsverwandte, vielmehr als Geistes- und Seelenverwandte vor.« Eduard, der Ottilie lieben wird, fügt hinzu, es sei ein Ehrentitel der Chemiker, daß man sie Scheidekünstler nenne. Er hofft auf eine Trennung von Charlotte, mit der er verheiratet ist. Der Hauptmann deutet die Metapher, die er mit dem Wort Wahlverwandtschaft zusammenfaßt, die Freiheit, Freundschaften und Liebesverhältnisse (die Anwendung der zärtlichen Kraft) subjektiv zu wählen , weiter aus: Werde reine Kalkerde innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns als Luft umgebe, und bringe man ein Stück solchen Steins in verdünnte Schwefelsäure, so ergebe sich Gips – »die zarte, luftige Säure, entflieht«.
    In dieser Weise argumentieren die Protagonisten des Romans über ihr künftiges Schicksal, das sie nicht kennen. Wer spielt nicht gerne mit Ähnlichkeiten? Ihm seien, sagt einer der drei, Fälle genug bekannt, in denen eine »innige, unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines Dritten aufgehoben, und einer der zuerst so schön Verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben würde«.
    Es geht um Freiheit und zugleich um die unbestechliche, zur Willkür neigende Zuwendung . Die Chemie scheint mit ihren radikalen Bindungsmöglichkeiten die Gleichnisse zu liefern, nach denen es sich zu leben lohnt.
    Die Menschen in Goethes Roman treiben Gartenbau. Sie entwickeln PARKLANDSCHAFTEN DES GEFÜHLS . Während in Frankreich die Revolution Laboratorien und Alchemien zur praktischen Veränderung der Menschen erprobt, prüft der Romanautor Goethe die Abgründe, über denen die BAUTEN DER ZIVILISATION , also auch Freiheit und Veränderung, ihre Gerüste errichten.
    Alle Elemente der Natur und des Seelenlebens sind präsent. Die Eigenart des in der Gartenlandschaft angelegten künstlichen Sees besteht darin, daß seine spiegelglatte Oberfläche sonst gewöhnlich das Mondlicht und das Licht der hellen Sonne reflektiert. Es scheint ein freundliches Gewässer zu sein. Tatsächlich, so Goethe, sei das Gewässer aus den reißenden Wassern eines Bergsees gebändigt worden. Ein tückischer Windhauch, den der Abend bereithält, hat ihn aufgewühlt. Das Kind, das in den See stürzt, ist rasch ertränkt (vom See getötet). Es gab aber Vorzeichen, die von den Beteiligten hätten wahrgenommen werden können. Diese Vorzeichen entstammen nicht der Natur. So sei z. B. das Kind, siehe wiederum Goethe, aus einem »doppelten Ehebruch« entstanden. Die Seelenträger, die ihre Verwandtschaft lösen wollten, Eduard und Charlotte, hatten dieses Kind gezeugt, und während solchen Geschehens dachte der eine innig an Ottilie, die andere verzehrend an den Hauptmann. So waren die Körper- und Gesetzesverwandten (die beiden Verheirateten), getrennt von den Geistesverwandten (einander abtrünnig, mit allen Fasern zum dritten und vierten tendierend), auseinandergerissen. Ein seelisches Monstrum von vieren, so wie ein Stier über vier Beine verfügt, hat das todgeweihte Kind hervorgebracht. Was hat der Windstoß hierzu noch ernstlich hinzufügen müssen? Es ging nur noch um den Zeitpunkt, zu dem die Katastrophe eintreten würde. Solches Liebesleben macht nicht mutig.
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    Eine Lesegesellschaft. Überall in Europa, aber auch auf den isolierten europäischen Stationen in Übersee, gibt es diese gärtnerische Kommunikation, die räsonierende Gemeinde. In den Pausen der Revolution in Frankreich: Es wird gelesen, es wird erzählt. In der Wartestellung der Zuschauer in Deutschland, die von der Revolutionierung ausgeschlossen sind: Wandlung, Lesen, gemeinsame Sammlung von Erfahrung. Den Mut des Erkennens üben! Sapere aude! Was macht in der Liebe Mut?

    Abb.: »Die Vierergruppe beieinander.« Kupfer, gezeichnet von Heinrich Anton Dähling, 1811. »Häuslicher Verein im traulichen Zimmer beym Lesen, – wo Eduard Ottilien näher rückt, sie bequem ins Buch sehen zu lassen – Charlotte und der Hauptmann sich mit Blicken ihre Beobachtungen mittheilen: Anziehung der befreundeten Naturen hinüber und herüber.«

    Abb.: »Ottilie auf dem See mit dem ertrunkenen Kinde.«
    Kupfer, gezeichnet von Johann Michael Voltz, 1811. »Kniend ist sie in dem Kahne niedergesunken und hebt das erstarrte Kind hülfeflehend hinauf zu dem dämmernden Himmel.«
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    Abb.: Titelvignette von Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld, gestochen von Carl Heinrich Rahl, 1817: »Nanni und der Architekt am Sarge Ottiliens.«
    Der

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