Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
zurückging, und flüchtete dann in eine der Türen.
Später, als darüber geredet wurde, hieß es, sie hätte im Flur geschrien bzw. sie sei nackt die Treppen heruntergelaufen und hätte geschrien. Tatsächlich ging sie nach dem Schlag, ihre Hand hatte automatisch zugeschlagen, in das Zimmer zurück und schloß ab.
Sie machte soviel Licht, wie es gab, und wusch sich über dem Waschbecken. Sie brauchte nicht zu kombinieren, um zu verstehn, daß es die ganze Zeit, nachdem er sie verlassen hatte, andere gewesen waren. Sie wusch sich in dem fremden Zimmer und kämmte mit seinen Bürsten ihre Haare. Es tat ihr leid um den netten Jungen. Aber bei diesem Gedanken schlug es wieder über ihr zusammen, sie bekam Angst. Sie überlegte, daß die ihn, als er sie verlassen hatte, draußen überfallen haben konnten und dann in seinem Bademantel, während sie ihn in einem der Nebenräume gefangenhielten, zu ihr gekommen sein konnten. Sie war fast soweit, in die Nebenzimmer einzudringen und ihn herauszuholen. Aber sie glaubte nicht wirklich an seine Unschuld, ebensowenig wie an den Tee. Sie ging, als sie fertig war, durch den Herrenflur, der sich wieder beruhigt hatte, und anschließend durch den Damenflur, weil sie den Ausgang verfehlte. Im Treppenhaus fiel ihr ein, daß sie die Aufschrift Duschen gelesen hatte. Sie ging wieder zurück und duschte, wobei sie die Kleider in dem Vorraum ablegte, so daß sie nicht naß werden konnten. Sie wurde, noch während sie duschte, von einigen Studentinnen des Damenflurs gesehn, die ihr, die vor ihnen stand und das Wasser gar nicht mehr genießen konnte, das auf ihre Schultern platschte, eine Szene machten und die Hausverwaltung alarmierten. Die junge Frau kam noch an der Pforte vorbei, ehe die Studentinnen zurück waren. Sie ging, am Körper wieder das Gefühl der Wärme und der Sauberkeit, in der Richtung, in der sie eine Tram vermutete. Noch etwas druselig, eine Kugel Wärme, mit ihrem Täschchen, dem korrekt zusammengefalteten Schirm, den runden Schultern, fort von den Akademikern.
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Das Labyrinth als Grube
In generöser Weise hat die Liebe die Greuel ihrer Abkunft »vergessen«. Weil aber gerade die Gefühle nicht vergessen können, lebt die zärtliche Kraft »wie in einem Labyrinth« ...
Abb.: Die Grabungsstätte Knossos. Sir Arthur Evans hielt den gesamten Palast des Minos für das Labyrinth.
Sir Arthur Evans in Knossos
Im heißen August 1909 geschah es, daß Sir Arthur Evans im nordwestlichen Säulenvestibül des Palastbezirks, den er König Minos zuschrieb, ein Stuckrelief ausgrub, auf dem ein farbiger Stier zu sehen war. Er blickte auf die Abbildung eines herrlichen Tiers, von dem er annahm, es sei dasjenige, das die Königin Pasiphaë erregt, oder aber dasjenige, das die Prinzessin Europa über das Meer transportiert habe. Die Phantasie ging mit ihm durch. Keinen Moment jedoch verwechselte der erfahrene Archäologe diesen Stier (und andere, die er später auf Vasen fand) mit dem Minotauros, der seiner Auffassung nach überhaupt kein Stier, sondern ein Gott war.
Der schönste Schatz der Evolution
Der Soziologe Karl Otto Hondrich, dem wir die Aufsatzsammlung Der schönste Schatz der Evolution. Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft verdanken, spricht in bezug auf seinen Forschungsgegenstand, die zärtliche Kraft, von ECHOS FERNER ZEITEN . In jedem geglückten Liebesverhalten der Gegenwart, so Hondrich, gebe es Obertöne; es handele sich um Nach- und Vorklänge vergangener Ereignisse, die auf Greuel verweisen. In gewisser Weise bestehe das Liebesverhalten aus dieser Substanz. »Zärtliche Kraft« wiederhole ihre gesamte Genealogie blitzartig: das sei das »Erlebnis«, ganz gleich, was die Teilnehmer dieses »Wunders« davon verstünden oder wie sie es sich erklärten. Liebesverhalten bestehe insofern nicht aus Gegenwart.
Man könne bezweifeln, ergänzt Karl Otto Hondrich, ob es eine intakte zärtliche Kraft gebe oder je gegeben habe. Sie bestehe aus Splittern wie die Libido, aus Echos. Gerade dieses Nicht-Konsistente bilde aber einen höchst substantiellen Boden, sei »wirkungsmächtig«. Das habe er, wenn auch nicht unter labormäßigen Umständen, beobachtet.
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Kann man das von Ihnen Untersuchte reproduzieren?
Kaum.
Wie will man Ihre These dann wissenschaftlich erfassen?
Man muß warten.
Bis etwas vorbeikommt?
Bis das, wovon ich spreche, sich ereignet. Die zärtliche Kraft reproduziert sich selbst.
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Gern verwendete Hondrich in diesem Zusammenhang das Wort
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