Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
»ursprünglich«: ursprüngliche Neugier, ursprüngliche Ehrlichkeit, ein ursprünglicher Attraktor, ein erster Blick usf.
Dabei war diesem entfernten Cousin der Frankfurter Kritischen Theorie keine Definition des Wortes »ursprünglich« zu entlocken. Ich benutze, sagte er, den Ausdruck nur als Wort.
Die zärtliche Kraft, behauptete er, sei deshalb so stark und unbezwinglich geworden, sie zeige deshalb ihre wilde Kraft, weil sie heiße Lavamassen von Gewalttat, Leiden, von mächtigen Vergangenheiten unter ihrem Boden spüre. Davon stelle sie die Negation dar. Man könne sie als ein Kunstprodukt betrachten; das mache sie besonders lebensfähig.
Mehr wollte der Gelehrte dazu nicht sagen.
Die »ursprüngliche Akkumulation der zärtlichen Kraft«
Sir Evans war ein gründlicher Mann. Durch die Abbildung des herrlichen Stierkopfes erregt, reiste er zu Schliemann. Hatte das Relief des Stiers einen Bezug zur Liebesfähigkeit oder zur Fähigkeit, sich an Grauen zu erinnern? Zu den Bildern gab es in Troja keine Parallelen. Die beiden Ausgräber mußten Fundstücke aus dem Zweistromland beiziehen, um überhaupt Abbildungen von Stierköpfen vergleichen zu können.
Sir Evans reiste nach Spanien. War es nach den Erfahrungen von Stierkämpfern oder Stierzüchtern möglich, daß eine weibliche Kämpferin den Stier an den Hörnern hielt, während ein männlicher und ein weiblicher Kämpfer auf dem Rücken des Tieres tanzten? Man kann auf einem Stierrücken nicht tanzen, war die Antwort der spanischen Experten. Selbst Pfeile, an denen Troddeln hängen, könne man nur mit Mühe am Nacken eines Stieres befestigen. Handelte es sich bei den kretischen Stieren der Antike um andere Lebewesen als die spanischen Hochzuchtstiere?
Abb.: Minotauros, sehnsuchtsvoll in die Ferne blickend.
Sir Evans reiste weiter nach London zu den Schätzen des Britischen Museums. Nirgends eine Vergleichsmöglichkeit. Dem Spurensucher schien aber die von ihm gefundene Abbildung ein Hinweis auf die »ursprüngliche Akkumulation der zärtlichen Kraft«. Wieso brauchte man einen tanzenden Stier, um die Verwandlung von Vernichtungskraft in Begehren auszudrücken? Was für eine Produktion war dort im Gange?
Steine des Labyrinths als Erinnerungsstücke
Eine akademische Redner-Truppe hielt im Jahre 1942, organisiert von der Monatszeitschrift Kosmos (herausgegeben von Bruno H. Bürgel), auf Kreta Reisevorträge vor der dortigen Besatzungstruppe, die von der 22. Infanteriedivision gestellt wurde. Die Redner hatten von Daedalus und dem Labyrinth gesprochen, das auf der Insel zu finden war. In den Wochen danach stellte Oberstleutnant i. G. Paetzold fest, daß Landser mit der Straßenbahn die Evans-Landstraße nach Knossos hinausfuhren und mit Steinen und Mauerstücken von dort zurückkehrten. Solche Steine sandten sie auch mit Feldpostpäckchen in die Heimat.
Die Befragung von Unterführern ergab, daß sie den Fundstücken, die sie für Steine des Labyrinths hielten, eine Wirkung zusprachen, unklar blieb jedoch, um welche Wirkung es sich handeln sollte. Der Oberstleutnant verbot diese Praxis, weil sie eine nicht kriegsnotwendige Aktivität darstellte.
Abb.: Königin Pasiphaë. Das von Daedalus für sie gebaute Gestell in Gestalt einer Kuh. Im Hintergrund der göttliche Stier.
Ein Frauenopfer in der Antike
Blut kostete es nicht, sondern Knechtung. Die Prinzessin, 12 Jahre alt, wurde dem Eroberer, weil kein anderes Opfer zur Hand war, ausgeliefert. Man fürchtete, daß der Nomadenfürst die Stadt überfallen würde, falls man ihn nicht besänftigte. Die junge Frau, praktisch noch Kind, leistete Widerstand. Sie war in ihrer Gegenwehr unerfahren (ein ganzes Leben, ein Pulk von Helfern, ausreichend Zeit hätten herhalten müssen, um überhaupt eine Gegenwehr in dieser Lage möglich zu machen). Das Opfer wurde auf ein Tragtier verladen, wie ein Gepäckstück befestigt und verschnürt. Nach der Ankunft wurde sie, noch immer widerspenstig und als Besänftigungsgabe ungeeignet erscheinend, vom Empfänger und seinen Knechten zurechtgerückt und bereitgemacht. Das junge Ding rührte den Herrscher. Insofern floß kein Blut. Sie wurde auch nicht grausam geschlagen. Ob sie irgend etwas von dem, was man von ihr verlangte, freiwillig tun wollte, wurde sie allerdings auch nicht gefragt.
Das Kind, mit dem man so verfuhr, nannte sich später Prinzessin, weil es ja dem Herrscher angehörte. Von Geburt war es ebenfalls Prinzessin gewesen, aber in anderer Hinsicht. Sie hatte
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