Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
der Nacht. Als Schwalbe kann sie das nicht sein, sondern nur als Nachtigall. Dies mache die Erzählung glatt, deute aber zugleich darauf hin, daß der Subtext des Erzählten, die geschichtlichen Vorgänge, von denen das Erzählte weiß, von etwas Anderem, Verborgenem, berichten. Warum wird es verdeckt? Ovids Metamorphosen seien voller Unregelmäßigkeiten, voller Bruchstellen dieser Art. Ja, die Qualität dieses antiken Autors liege darin, daß er sie zulasse. Gewissermaßen seien die Brüche der Kern der Erzählung.
Buch I und der Beginn von Buch II des perpetuum carmen , des »ununterbrochenen Gedichts«, handeln vom Ursprung der Welt, von Chaos, Kosmos, Eros und erneutem Chaos. In Buch I kommt es anfangs zur Konfrontation zwischen Göttern und Menschen, der Großen Flut (V. 5-437). Bei Neubeginn des Lebens auf der Erde nach dieser Flut zeigt sich ein monströses Lebewesen, die Python-Schlange, ein Schrecken der Völker. So muß ein Gott, Apoll, sie töten.
Dieser Tat folgt sofort eine Liebesgeschichte. Den Gott ergreift gieriges Verlangen nach der Nymphe Daphne, die aber, ebenfalls von einem Gott, gegenüber Liebesgefühlen immunisiert worden ist (V. 452-567). Apollon, zur Vergewaltigung bereit, jagt Daphne. Im Lauf setzt er zu einer Rede an. Die junge Frau antwortet ihm. Er bittet sie, langsamer zu rennen, er werde sie dann langsamer verfolgen. Bevor er zur Gewaltanwendung überzugehen gedenkt, verhält er sich wie ein elegisch Liebender, er erörtert mögliche Friedensschlüsse. Im Augenblick, in dem er Daphne ergreifen und ihr Gewalt antun will, fleht diese zum Flußgott, ihrem Vater. Dieser verwandelt sie auf ewig in einen Lorbeerbaum. Aus dessen Blättern werden künftig Heroen und Cäsaren ihre Kopfbedeckung zusammensetzen, mit ihnen ihre Herrschaft dokumentieren: Unberührtheit, Unbestechlichkeit. Die versuchte Gewalttat, schreibt Kaminski, ist merkwürdig. Als schritte der heilige Georg oder der Drachentöter Siegfried von Xanten, unmittelbar nach Tötung des Drachen, einer Befreiungstat, zur Vergewaltigung. Ein großmütiges Schicksal verhindert die Tat und gibt durch Metamorphose der Gefährdeten ewiges Leben. Daphne gelangt nicht an den Sternenhimmel, sondern besiedelt ubiquitär die Küsten des Mittelmeers.
»Das kontinuierliche Lied« bietet in der ersten Fünfergruppe (Pentade) seiner Erzählungen eine Reihe weiterer Liebesgeschichten. Hervorstechend daraus der Mythos um Perseus: Dieser hat unter Einsatz des Lebens Andromeda, die sich, bedroht von einem Untier, angekettet sieht, gerettet und heiratet diese auf einem großartigen Fest. Während des Gelages erscheint der ursprüngliche Verlobte Andromedas, Phineus, mit einer Rotte bewaffneter Gefolgsmänner. Perseus vermag den Gegner zu versteinern, indem er ihm das Antlitz der Medusa vorhält, die auf seinem Schild wie auf einem Spiegel abgebildet ist. Dieses schreckliche Bild zeigt ein Schlangenhaupt so, als sei die Python-Schlange vervielfacht. Der Liebesroman von Perseus und Andromeda ist über einen Abgrund gebaut, in dem Monster hausen.
Anders die Irrfahrt eines schönen jungen Mannes namens Narzissus ( III 339-510). Er lebt in dem Wahn, das eigene Bild, das ihm das Wasser spiegelt, zum Geliebten zu nehmen. Es bleibt unerreichbar.
»Denn sooft ich dem klaren Wasser einen Kuß geben will, strebt er mit zurückgebeugtem Antlitz zu mir. Ich möchte glauben, ich könnte ihn berühren. Fast ein Nichts ist, was den Liebenden im Weg steht.«
Wieder anders die Geschichte von Callisto ( II 401-532). Diese Jägerin und Jungfrau ist sich ihrer Liebesfähigkeit vollkommen unbewußt. Der Gott Jupiter sinnt auf Gewaltanwendung. Er sucht durch Täuschung, indem er die Gestalt der Göttin Diana annimmt, ebenfalls einer Jägerin, sich die Gelegenheit zur Vergewaltigung zu verschaffen. Callisto verfällt ihm, ohne zu verstehen, was ihr geschehen ist. Sie wird schwanger. Ungeachtet ihrer vorherigen Gegenwehr wird sie von Jupiters Gattin gestraft: Diese verwandelt die »Rivalin« in eine Bärin. Durch vereinigte Liebeskräfte, die ihrer Unschuld und die des mächtigen Hauptgottes, wird Callisto als Sternbild an den Himmel versetzt, als Große Bärin, ihr Sohn als Kleiner Bär. Ewig weisen nun diese Sternbilder den Schiffen auf nächtlichem Meer ihren Weg.
An der Schnittstelle der zweiten zur dritten Pentade (in den Büchern X und XI ) geht es um das Schicksal des Orpheus. Weil er von der Trauer um seine Geliebte Eurydike nicht ablassen kann, und auch wegen
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