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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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sei. Die Lage werde zusätzlich erschwert, weil die Möglichkeit, nach oben ans Licht zu fliehen, durch den Willen versperrt sei, das Geheimnis des Abgrunds endgültig zu erforschen. Man kann vom Labyrinth nicht lassen, dies sei sein Verhängnis.

Die Küche des Glücks
    Zwei Tage im Wintersemester 1968/69 in der Revolutionsstadt
    Frankfurt am Main
1
Ein Seminar mit überklebter Ankündigung
    Der Mann aus Bielefeld suchte sich seinen Weg mit langen Schritten. Die Aktentasche in der linken Hand. Er nahm den Weg durch das Studentenhaus Jügelstraße, weil er die Pulks wartender Studenten vor dem Haupteingang der Universität meiden wollte. Durch den Pförtnerausgang des Studentenhauses konnte er den Seiteneingang des Hörsaalturms erreichen und im Inneren des Gebäudes zu den Seminarräumen gelangen, die im ersten Stock lagen, direkt über dem umgebauten Portal. Im Übungsraum, in dem sechzig Teilnehmer Platz gefunden hätten, erwarteten ihn vier Studierende, drei Frauen, ein Mann. Er begrüßte die Anwesenden. Das Maschinenskript entnahm er seiner Aktentasche, die Übung hieß Liebe als Passion . Die Ankündigung auf der Anschlagstafel vor dem Rektorat war durch Mitteilungen überklebt, die zu einem Teach-in aufriefen. Der Mann aus Bielefeld erläuterte höflich die von ihm beabsichtigte Vorgehensweise für das Seminar.
2
Was hilft ein Freisemester?
    Th. W. Adorno war für das Wintersemester 1968/69 von seinen Universitätsverpflichtungen freigestellt. Aber auf die gewonnene Zeit setzten sich sogleich die Zeiträuber.
    Er muß Anfragen beantworten, Examenstermine bleiben. Er hatte vorgehabt, die ÄSTHETISCHE THEORIE bis zum Herbst 1969 abzuschließen. Statt dessen: nur zäher Fortschritt dieser Arbeit. Heute schon die siebte Sitzung im Institut für Sozialforschung zum Thema Drittel-Parität. 30 Sogleich nach Ende der Sitzung flieht er in ein Café, wo er schon früher als Privatdozent geschrieben hatte, als Sohn seiner Eltern. Er bedeckt in seiner filigranen Handschrift Seite auf Seite in dem Heft, dessen Vorrat einmal in das Buch einfließen wird. Unbeantwortet blieben Anfragen des Rechnungshofs. Das Universitätskuratorium hat die Beantwortung dringlich angemahnt. Was könnte er, der Gelehrte, zu dem Thema beitragen? Es wird von ihm erwartet, daß er etwas beiträgt. Er kann nicht antworten: »Weiß nicht.« Er kann nicht antworten: »Keine Zeit!«
    So werden ihm Stunden entfremdet. Daß er für den morgigen Tag einen weiteren Zeitentzug erwartet, legt sich wie eine Lähmung auf den heutigen Augenblick. Unglück verlangsamt. Er wird nicht schneller durch die Zeitnot.
    Jetzt, gegen 14.30 Uhr, wirkt auf seinen, des Liebhabers, Thymos, daß er um 16 Uhr sich in der Sache Roland Pelzer auf einer Trauerfeier zeigen muß. Ihm fällt ein, daß er versäumt hat, eine Spende für die Eltern des Toten, die in seinem Büro im Institut vorbereitet wurde, abzuzeichnen. Er muß deshalb, vor dem Termin am Sarg des Doktoranden, im Institut vorbeischauen. Man wird die Gelegenheit nutzen, ihn aufzuhalten, ihm eilige Fragen zu stellen.
    Daß sich dieser Roland Pelzer vom Goethe-Turm im Stadtpark stürzte, bewegt ihn doch im Herzen. Ja, es schädigt seinen Kreislauf. Die Notizen zum Begriff des Subjekts und des Objekts bei Hegel, an denen er parallel zur ÄSTHETISCHEN THEORIE arbeitet, grenzen an das Forschungsgrundstück, auf dem Pelzer offensichtlich verzweifelte. Lieber hätte Adorno an dessen Stelle die Dissertation geschrieben, als ihn jetzt zu betrauern. Der junge Selbstmörder hatte in einer kurzen Bekenntnisschrift zu seiner Tat seine Leiche der Wissenschaft überantwortet, damit die für einen toten Körper ausgelobte Gebühr den Eltern bei der Begleichung der Bestattungskosten helfen würde. Die Anatomie hatte jedoch den zerschmetterten Körper zurückgewiesen. Für die Forschung sei er untauglich. Adorno schwankte, ob er sich in einer Petition hiergegen wenden oder durch einen aus dem Institutsetat zu bezahlenden Betrag den Schaden ausgleichen sollte (dafür muß er mit Friedrich Pollock sprechen, für den Fall der Drittel-Parität wäre eine solche Verfügung ausgeschlossen). Er bereute den Zeitverlust, gleich für welchen Weg er sich entschied. Andererseits belastete der extreme Entschluß des jungen Mannes sein Herz. Er sah in dem »tragischen Zeichen« eine Mahnung, entweder sein Leben, das der Philosophie, das von ganz Frankfurt oder das der Welt zu ändern. Einfühlung und die Dringlichkeit, den Fortschritt seines

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