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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Gesichtszüge verkrampfen sich dabei zu einem »sardonischen Lächeln«, während sie von den glühenden Eisenzangen umfangen sind.
    Czernowitz war von dieser Quelle (geschrieben in der Schrift der Lineatur B) fasziniert. Dieser Riese sei in Wahrheit der Minotauros. Das Artefakt sei, ähnlich dem Golem, beseelt. Das gerade sei die Kunst des Daedalus gewesen. Er habe die latente Kraft der Selbstverteidigung, die jeder Kreter, ja jeder Mensch, nach Clans geordnet, in sich trage, zu einem technischen Produkt verarbeitet. Das, was den Menschen das Liebste ist, bildet ihre Verteidigung. Darin ist der Riese Thalos (= Minotauros) identisch mit den Automaten der Medea, die – bis zur Brust ins Erdreich gemauert – die räuberischen Griechen, die in Abchasien anlanden, nicht aufzuhalten vermochten.
    Das Märchen von der jährlichen Gruppe von Opfermenschen, die ein menschenfressendes Monster verzehrt, sei dagegen nur Ausdruck des schlechten Gewissens der Athener. Richtig sei, daß der listenreiche Theseus – ein Chefzerstörer schon auf dem Gelände Thessaliens – die von Daedalus gesetzte Verteidigung durchbrochen habe. Die Einfachheit seiner aggressiven Absicht sei der Ansammlung raffinierter Gegenmittel überlegen gewesen. Es sei eine Illusion, daß technischer Erfindungsgeist (erotische Stufe 1) die Kombinationen des »Willens zur Macht« (erotische Staustufe 7) paralysieren könnte. Der technische Erfindungsgeist müßte selber an solcher Steigerung teilnehmen (und würde sich dabei von seinem erotischen Grunde, der ihn erfinderisch macht, lösen).
    Diese Überlegung führte Czernowitz in seinem in Paris 1947 publizierten Essay zum Mythos der Prinzessin Turandot näher aus. Sie beantwortete den mechanischen Eigenwillen herandrängender, maskuliner Eroberer, indem sie diese zueinander in Wettbewerb setzte. Jeder dieser Eroberer garantierte durch seine Egozentrik die gerechte Verteilung der Chancen, wenn die Prätendenten um die Prinzessin warben. 29
    Jedem, der die Rätsel der Prinzessin nicht zu lösen wußte, wurde der Kopf abgeschlagen. Die Durchführung des Prozesses garantierten die in Wartestellung verharrenden Konkurrenten. Einen solchen Mechanismus, folgerte Czernowitz, müsse auch Daedalus im Palast des Minos für den Umgang mit gierigen Fremden ersonnen haben. Das und nichts anderes sei der Minotauros. Die »zärtliche Kraft« zeige in dieser Hinsicht, werde sie von einem intelligenten Ingenieur und Baumeister angeleitet, die Eigenschaften des Skorpions. In ihrem Kern stecke der Stachel. Auch heiße es, daß die Liebe frei (»comme un oiseau«) und »unbestechlich« sei.
    Warum aber gilt das Labyrinth als ein verwirrendes Gebäude, als ein System von Irrwegen? Wieso ist Orientierung in den Bereichen der zärtlichen Kraft ausgeschlossen? Weil, antwortet Czernowitz, diese unersetzliche Kraft nur zusammengesetzt ist. Daedalus muß Anleihe bei einem festen Stoff wie dem Eisen machen, weil die Liebe selbst aus zahlreichen, miteinander streitenden Komponenten zusammengesetzt ist, so daß sie eher wirbeln als sich wehren oder handeln könnte, wenn man sie so läßt, wie sie ist. Sie hat keine Natur.
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Wieso sind die Mauern des Labyrinths so fest?
Sie bestehen aus Menschenfleisch.
Das ist doch nichts Festes.
Geist geworden, ist es fester als Beton.
Oder Gips?
Fester als Gips.
Dichter als ein Diamant?
Härter.
Wir wissen wenig von den Kellern und Katakomben der subjektiven Welt, auf der unsere Häuser stehen.
Das bricht schneller nach unten durch, als einer denken kann.
Warum sind im Labyrinth die Ausgänge versperrt, und warum sind sie so schwer zu finden? Wenn doch Sperren Hinweise auf einen Ausgang darstellen?
Sie müssen das negativ sehen. Sie finden es nicht heraus, weil es das Labyrinth nicht gibt. Ganz Knossos ist das Labyrinth. Es geht um ein Bild.
Ohne Horizont?
Wenn wir keinen Horizont haben, entspricht das einer Mauer.
»Daß es zu bösen Häusern hinausgehen muß, sieht man von Anfang an«
    König Agamemnon, Schlächter von Troja, der die eigene Tochter Iphigenie opferte, kehrt nach Jahren in seinen Palast zurück. Er wird ins Bad geführt. Dort wird er von seiner Gattin (und deren Geliebtem) mit Äxten erschlagen. Aus dem Baderaum rinnt eine Blutspur, sie überquert eine Terrasse und rinnt die prächtige Eingangstreppe des Palastes hinab. Diese rote Spur, sagt Ernst Jünger, ist der Anfang der roten Teppiche. Sie werden ausgerollt für den Empfang fremder Herrscher, ein Zeugnis der

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