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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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zündeln
    Elke Hinrichs war mit ganzem Herzen in das Seminar geeilt. Das Wort PASSION in der Ankündigung, welche sie las, ehe sie überklebt wurde, hatte sie magnetisiert. Sie wollte erfahren, wie sie an Gerd Schäfer herankommt, der ihr schon seit letztem Freitag auf ihre Nachrichten und Kassiber nicht mehr geantwortet hat. Sie hatte die Zettel vor seine Tür gelegt. Er verweigerte jetzt schon mehrere Tage die Antwort. Sie war ungeduldig.
    Der Jurist, der sich in dieser Übung als Soziologe bezeichnete, sprach von »Codierung der Intimität«. Sie war gern bereit, sich auch längere Ausführungen anzuhören, die sie nicht interessierten, wenn sie am Ende erfahren könnte, worin PASSION besteht und wie man sie in einem Geliebten oder Freund erzeugt. Sie verstand die Ausführungen Luhmanns so, daß Leidenschaft ansteckend sei und stets auf beiden Seiten oder gar nicht entstünde, und sie war bereit, in ihrem Innern zu zündeln, wenn das die Bedingung dafür war, daß Gerd sich ihr wieder zuwenden würde.
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    »Du ungestümes Herz,
    was weinst Du.«
8
Könnte der revolutionäre Elan die vielfältigen Menschenlandschaften Deutschlands ergreifen?
    Der Mann aus Bielefeld, an Disziplin gewöhnt schon seit seiner Tätigkeit an einer Volkshochschule, bemühte sich sehr, durch sein Verhalten nicht zu zeigen, daß er wahrgenommen hatte, wie wenige Teilnehmer dieses Seminar noch besaß; das legendäre Seminar des GROSSEN ADORNO hatte mehr als 100 Teilnehmer umfaßt.
    Luhmann war in der Grundströmung seiner Gedanken praktisch ausgerichtet. Die Protesterregung, die er in der Umgebung der Universität beobachtete, hielt er für eine dauerhaft schwer reproduzierbare AUSNAHMEERSCHEINUNG . Zwar ist sie imstande, ihm Seminarteilnehmer zu entziehen, selbst aber, so vermutete er, nicht in der Lage, die nötige Anziehungskraft zu entwickeln, ihre Gruppen auch nur im Raum Frankfurt wirksam zusammenzuhalten.

    Abb.: Niklas Luhmann (1927-1998).

    Abb.: Hans-Jürgen Krahl (1943-1970).
    In seinen soziologischen Tabellen, die er im Kopf trug, zeigte sich der Ballungsraum des Rhein-Main-Gebietes als ein nur kleiner Teil Europas. Verglichen mit den Gebieten Nordrhein-Westfalens, Niedersachsens, Ober- und Niederbayerns, Schwabens blieb die Metropole Frankfurt ein Teilstück des Landes (und im Raum Frankfurt wiederum die studentische Bewegung eine Gruppierung von relativ kleinem Ausmaß).
    Könnte der revolutionäre Elan, fragte sich Luhmann nüchtern, wenn genügend Zeit bliebe, die vielfältigen Menschenlandschaften Deutschlands ergreifen? Er könnte das, meinte er, in siebzig Jahren. Sofern er sich über einen solchen Zeitraum selbst erhielte. Außerdem müßte er relevant sein für die zunächst nicht Einbezogenen. Ein solcher Impuls müßte als Glücksbringer auftreten! Das wollte der Bielefelder Gelehrte in seinem kühnen Verstande eher für ausgeschlossen halten.
9
Der Vorrang des Politischen / »Es gibt kein Leben vor dem Tod«
    Im Teach-in im großen Saal des Studentenhauses standen wir vier Stunden. Der Andrang war so groß, daß auch das Treppenhaus und die Halle unterhalb des großen Saales von Teilnehmern besetzt waren. Das Teach-in wurde durch Lautsprecher übertragen.
    Ich hätte Erwin F. gern umarmt oder angefaßt. Wir standen nur wenige Zentimeter auseinander. Die Aufmerksamkeit der Umstehenden war aber auf den Redner konzentriert. Es wäre aufgefallen, wenn wir uns umeinander gekümmert hätten. Meine Aufmerksamkeit galt nicht der Veranstaltung. Ich hätte gern an F. gerochen. Er wird nach Schluß der Veranstaltung, sagte ich mir, zu mir aufs Lager kommen, einigermaßen müde sein und das gleiche mit mir tun wie an früheren Abenden. So wie wir dort nachts schon einige Male zusammengekommen waren, kann ich mich mit der Beziehung nicht abfinden. Jetzt und hier müßte etwas geschehen. Man stelle sich vor, wir müßten ewig wiederholen, was wir für gewöhnlich tun, dann müßte ich sterben (»es gibt kein Leben vor dem Tod«). Daher wollte ich ihn in jenem Moment anfassen. Im Text des Redners ging es um den Vorrang der Betriebsarbeit vor jeder anderen Protestarbeit. Auch dem Kampf in der Gefängnis- und Justizkampagne bestritt der Vortragende jede Priorität. Wie kann ich den Mann, den ich liebe, mit meinem Arm umfangen und aus dieser Umgebung herauslotsen? Wenn ich mich jetzt undiszipliniert verhalte, verderbe ich es mir endgültig mit diesem Genossen.
    Eine Gruppe im Nordend verfaßt ein Flugblatt zur »Lage im

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