Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Blutspur.
Kollektive erotische Grundströmung als Ursache vermehrter Zeugung in einer Pariser Nacht
Marcel Proust, beeinflußt in seinem Urteil davon, daß er den Nachkommen eines Obersten Napoleons, den Grafen N., zu lieben glaubte, verteidigte Napoleons Ausspruch, den dieser nach der verlustreichen Schlacht von Borodino noch während der nächtlichen Besichtigung des Schlachtfeldes geäußert haben soll, daß nämlich die Zahl der an diesem Tage für Frankreich Gefallenen in einer einzigen Liebesnacht von Paris durch Neu-Zeugung ausgeglichen werden könne.
Der Ausspruch war als zynisch verschrien. Er ist doch aber korrekt, sagte Proust. Er wollte eine Begründung dafür in einem seiner Texte unterbringen: In manchen Nächten ergreift die Hauptstadt Frankreichs ein EIFER DER ZÄRTLICHEN KRAFT , die sich an Neueintreffenden (Urlaubern von der Front, aus der Provinz ankommenden jungen Frauen) geisterhaft entzündet, so daß sich die buntgemischte Gesellschaft, versammelt auf den verschiedensten Soireen, Bällen, in Tanzsälen und Kneipen, zu Bindungen entschließt, die zu anderen Zeiten, auch in vielen Jahren, in dieser Massierung nicht zustande kommen. Es sei dies eine Geisterströmung, so Proust. Auf diese Weise gieren, fuhr er fort, in den Molekülen des Wassers, von denen der Ärmelkanal so reich sei, die Sauerstoffatome zueinander. Ein nachbarliches Molekül zieht eine solche illegale Sehnsucht zum nächsten, ohne doch die Gestalt des Moleküls zu zerstören. So bilden sich durch das Verhalten der Sauerstoffpartikel, jedes bewacht und gehalten von je zwei Wasserstoffatomen, WASSERSTOFFBRÜCKEN , ähnlich Kristallen, über die eine Grille laufen könnte wie über einen festen Boden des Wassers, wenn nicht Wellengang diese Realität verdeckte. Für uns nicht beobachtbar, zweigen sich Teile der Persönlichkeit, der ICHS VON PARIS , ähnlich wie die Sauerstoffatome, die doch nur ein Drittel des Wassers ausmachen, in ihrer Gier ab, sie lehnen sich (unsichtbar) aus den Körpern heraus und wenden sich zu anderen hin. Diese erotische Neugier, quasi ein Geschwätz der Seelen, ohne die Schranke, welche die konkrete Berührung der Begierde setzt, ermöglicht gerade dadurch, daß die realen Paare das Leben künftiger Generationen stiften, wenn sie nicht fremdgehen, wenn sie nämlich in dieser Nacht beieinanderbleiben.
Dies mache die Grundströmung einer Pariser Nacht aus, auf die, so Proust, der Kaiser angespielt habe. Der Ausgleich der Toten von Borodino in nur einer Nacht von Paris sei insofern weder zynisch noch unrealistisch. Vielmehr sei die Verknüpfung von Liebesbeziehungen und Fortzeugung nichts Individuelles, sondern hänge von einem solchen Grundstrom ab, in den sich große Kollektive, gleich einer Hauptstadt, wie in einen Kokon einspännen.
Das Labyrinth als Grube
In seinem 42000-Wörter-Traktat Heide, nichts als Heide lenkt Arno Schmidt das Auge des Lesers auf die konventionelle Darstellung des Labyrinths. Wir sehen, notiert er, von oben auf einen solchen Bau und schauen so auf die Wege und Mauern. Wir blicken darauf wie Kontrolleure. So nimmt niemand das Gebäude wahr, wenn er sich in dessen Fängen befindet.
Ich weiß nicht, schreibt Schmidt, wo diese Zeichnungen sich herleiten. Abgekupfert seien sie seit 1909 von dem von Sir Arthur Evans publizierten Plan der ausgegrabenen Palastanlagen des Minos. Aber das erklärt nicht, warum die Bilder vom Labyrinth in Aufsicht, die ich hier vor mir sehe, aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen, also nicht von dem Supplement-Band 6 von Sir Evans abgekupfert sein können. Dieser ist 1936 erschienen. Bewundernswert: südenglische Gartenlabyrinthe. Und hier nochmals ein Labyrinth aus Fliesen in einer der gotischen Kirchen in Frankreich. Man könnte versuchen, in einem solchen »Plan« Schach zu spielen, aber darin verirren könnte man sich nicht.
Tatsächlich, so führt Arno Schmidt seine Beobachtung weiter, ist das Labyrinth kein horizontal sich erstreckender Bau. Das geht aus ägyptischen Quellen hervor. Vielmehr sind Labyrinthe in die Tiefe gerichtet. Das ist ja das, was die Eindringlinge in dem Labyrinth schockiert. Sie bewegen sich ohne sichtbares Ende zum Erdmittelpunkt, nicht einmal geradewegs, sondern auf einer Schräge. Man könnte dies, wäre es übersichtlich, mit einem Bergwerk oder einer Katakombe vergleichen. Es fehle aber an einer passenden Bezeichnung für den Ort, weil man im Dunklen zuletzt gar nicht wisse, ob man gestiegen oder abwärts gegangen
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