Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Frauengefängnis Preungesheim«. Man wisse aus Norwegen, daß es um die Aufhebung der Gefängnisse überhaupt als die politische Antwort auf die Repression des Staatsapparats gehe. Die Direktorin der Frauenstrafanstalt Dr. Einsele habe eine Station für strafgefangene Mütter eingerichtet, in die deren Kinder aufgenommen und von ihnen betreut werden könnten. Dieser Ansatz sei jedoch eine Abschwächung des Kernansatzes, Strafe überhaupt zu ersetzen, und demgemäß Abwiegelung.
Eine Nachbargruppe von Genossen, die in einem Lokal im Nordend debattierte, hatte die Bundeswehrkampagne ins Auge gefaßt. Eine dritte Gruppe die Bildungskampagne für Arbeiterkinder. Dieses Projekt verstand sich als Fortsetzung der Bildungskampagne für Bauernkinder, mit denen sich die Genossen in Freiburg beschäftigten. Die Genossen hatten den Eindruck, wenig Zeit zu haben.
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Ein Wirklichkeitsroman, in dem die handelnden Personen untereinander keine Berührung haben. Ein Beispiel für offene Kommunikation
A. Trube, der die Lokale im Nordend häufig besuchte, in denen die Genossen debattierten, hatte die Zeit berechnet, die für die Ausführung der verschiedenen GESELLSCHAFTSVERÄNDERNDEN VORHABEN notwendig sei. Für die insgesamt zwölf Flugblätter voller Pläne, die in den zwei Tagen im Wintersemester 1968/69, um die es in der vorliegenden Geschichte geht, veröffentlicht wurden, wären, so Trube, 80 Jahre, und zwar mit der sechsfachen Anzahl arbeitender Gruppenmitglieder, erforderlich gewesen. Dies war ein Durchschnittswert, der auf Schätzung beruhte. Für die Gefängniskampagne veranschlagte er kürzere Zeiten als für die Bildungskampagne. Die Justizkampagne hielt er auch mit einem Ansatz von 130 Jahren und der sechshundertfachen Zahl an strikt arbeitenden Gruppenmitgliedern für aussichtslos.
Dennoch schienen ihm, den seine Freundin Mecki Meier einen ALLESWISSER und WIRKLICHKEITSPOETEN nannte, in diesen Tagen die Elemente einer vollständigen »Erneuerung der Gesellschaft« verstreut im Raum Frankfurt präsent zu sein. (Er verstand nicht, warum der SDS sich im folgenden Jahr auflöste.) Auf der anderen Seite plädierte er für die Mitwirkung erfahrener Scheidungsanwälte und Heiratsvermittlerinnen, auch für die Inanspruchnahme des Rates erfahrener Zuhälter in der Kaiserstraße, im Rahmen der Bewegung.
Oft hielt er Rat mit Fritz Dorfmann, dem zweiten Assistenten des Chefdramaturgen der Oper Frankfurt; Dorfmann war kein Student. Er war Quereinsteiger im doppelten Sinn: Als Nichtakademiker im dramaturgischen Dienst, als Nichtstudent in der studentischen Revolte. Um so ernsthafter widmete er sich der Untersuchungsarbeit. War das Musiktheater eventuell ein Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung? Die städtische Oper spielte in jenen Tagen Armida , ein reformfreudiges Werk des Ritter von Gluck.
Das SOGENANNTE LINKSRADIKALE BLASORCHESTER probte den Marsch »Unsterbliche Opfer«. Heiner Goebbels komponierte für das Orchester aus Materialien, die er in Rossinis Partitur der »Diebischen Elster« fand, einen zweiten Trauermarsch von starker emotionaler Wirkung. Hätten die Genossen von der Lederjackenfraktion des SDS von dieser luxurierenden, die politischen Schranken überschreitenden Musikpraxis gehört, wären sie in den Probenraum (eine mit Instrumenten und Aufnahmegeräten vollgestellte Garage) eingedrungen und hätten die Notenblätter verbrannt.
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Ein Beispiel für geschlossene Kommunikation
Bei jedem Wetter ist die Justiz ein Beispiel für eine Institution im Verteidigungszustand. In den Büschen zwischen den Justizvierecken an der Hammelsgasse sowie im Übergang zum Neubau der Staatsanwaltschaft (mit den Aquariumsfenstern) sind Beamtengruppen aufgestellt. Sie tragen statt der Uniformhosen feldmarschmäßige Überhosen. Die Reserven (der Schleier-Sonne entzogen) im neonbeleuchteten Schatten der Eingänge und Treppen von Gebäudekomplex II . Die Jalousien der Justizgebäude sind herabgelassen. Es entsteht so innerhalb der Anlage, in den Geschäftsstellen und Richterzimmern ein abgeschottetes Kunstklima, das es nirgendwo auf Erden sonst im Sommer oder Winter gibt.
Schreck in der Abendstunde: Der Schlauch eingedickter Luft über Stadt und Vorortzone wird an den Rändern von den Taunuswäldern herab lediglich etwas ausgefranst. Ein Autokorso fährt die Homburger Landstraße herauf. Megaphone auf den Fahrzeugen montiert. Vier in U-Haft in JVA III einsitzende politische Gefangene sollen es hören. Sie sind sofort
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